"Besessen" auf DVD:Eine außergewöhnlich perverse Kinoarbeit des jungen Scorsese

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Was gibt's denn da zu sehen? Alexandra Stewart lugt durchs Wandloch. (Foto: Koch)

In einem Frühwerk des US-Regisseurs, das jetzt auf DVD erscheint, beobachtet ein Spanner einen Mord und muss sich entscheiden: Schweigen - oder eingreifen und sich als Voyeur zu erkennen geben?

Filmkritik von David Steinitz

In jener sympathisch anrüchigen Phase des europäischen Kinos, als die Übergänge zwischen Softporno und Autorenfilm fließend waren, beschloss ein junger amerikanischer Filmemacher, sein Glück nicht nur in Hollywood zu versuchen, sondern auch in Holland. Einige Jahre bevor Martin Scorsese mit "Mean Streets" und "Taxi Driver" das schnarchnasige amerikanische Kino der Siebziger auf den Kopf stellte, schrieb er 1969 am Drehbuch des niederländischen Thrillers "Besessen - Das Loch in der Wand" mit. Ein Film, der sehr offensichtlich von zwei anderen Werken beeinflusst wurde, die damals schon als Klassiker galten: "Das Fenster zum Hof" und "Augen der Angst / Peeping Tom".

"Besessen", der nun erstmals in Deutschland erhältlich ist, erzählt die Geschichte des Medizinstudenten Nils. Der steht kurz vor dem Examen, erliegt aber einer verführerischen Ablenkung: Als in seinem Apartment zufällig ein Bild von der Wand fällt, entdeckt er ein kleines Loch in der Mauer. Dadurch kann er in die Nachbarwohnung lugen, und zwar direkt ins Schlafzimmer, wo scheinbar rund um die Uhr unzüchtige Dinge geschehen. Nils entwickelt sich zum süchtigen Spanner, aber als er eines Tages scheinbar einen Mord beobachtet, muss er sich entscheiden: schweigen - oder eingreifen und sich als Voyeur zu erkennen geben.

Die Kernthemen von Scorseses berühmteren Filmen - allesamt wilde Studien der Gewalt und des Voyeurismus - werden hier schon vorweggenommen. Genauso wie seine Leidenschaft für eine morbid-blutige Ästhetik, die er später noch mehr auf die Spitze trieb, als er neben der Drehbucharbeit auch zu inszenieren anfing.

Zu Beginn seiner Karriere ein ziemlich schüchternes und unbedarftes Kerlchen

Aus Scorseses Perspektive als junger Filmemacher war "Besessen" trotzdem eine außergewöhnlich perverse Kinoarbeit. Denn auch, wenn man es dem Regisseur von orgiastischen Sex-&-Crime-Spektakeln wie "Goodfellas" heute kaum glauben mag: er war zu Beginn seiner Karriere ein ziemlich schüchternes, introvertiertes und unbedarftes Kerlchen. Über seine Anfänge im Filmgeschäft sagt er im Rückblick: "Ich war im Grunde noch ein Kind, jemand der sehr behütet aufgewachsen war. Ich hatte zum Beispiel keine Ahnung, wie man sich eine Mahlzeit zubereitete."

Im holländischen Regisseur Pim de la Parra fand er jedenfalls einen gleichgesinnten Kinolüstling, mit dem er seine ganz persönliche Filmgrammatik zu entwickeln begann. De la Parra hat vor allem B-Pictures gedreht, Schauware für die kleineren Kinos jenseits der großen Hollywoodpaläste der Sechziger und Siebziger. Auch eine "Tatort"-Episode gehört zu seiner Filmografie: "Kressin und die Frau des Malers" gesendet im Jahr 1972, mit Sieghardt Rupp als grummeligem Zielfahnder Kressin.

Ihrem Protagonisten Nils stellten Scorsese und de la Parra ein fürs damalige Macho-Kino erstaunlich resolutes Mädchen an die Seite: Seine Freundin Marina ist eine Journalistin, die ebenfalls einen Mordfall aufzuklären versucht und ihrem trotz der Spannerei recht spießigen Medizinstudenten immer wieder aus der Patsche helfen muss. Ein Film letztlich über die Ohnmacht des männlichen Blicks, der zwanghaft ans Objekt seiner Begierde gefesselt ist, aber von den daraus resultierenden Konsequenzen überfordert wird. Eine merkwürdige Impotenz befällt den Studenten gerade in den Augenblicken seiner größten Beobachtungslust.

Die erste deutsch-holländische Koproduktion nach 1945

Abgesehen vom amerikanischen Drehbuchautor Scorsese markiert der Film ein schönes Stück europäischer Wiederannäherung nach dem Zweiten Weltkrieg: "Besessen" ist die erste deutsch-holländische Koproduktion nach 1945. Auch das Hauptdarsteller-Pärchen ist bunt zusammengewürfelt: Die Journalistin Marina wird von der Kanadierin Alexandra Stewart gespielt, die in den Fünfzigern für ein Kunststudium nach Paris ging und eins der wilden Mädchen der Nouvelle Vague wurde. Sie drehte mit François Truffaut und Louis Malle. Medizinstudent Nils wiederum wird von Dieter Geissler gespielt, der das europäische Kino später vor allem als Produzent prägte: Er produzierte unter anderem Viscontis "Ludwig II." und "Die unendliche Geschichte".

Besessen - Das Loch in der Wand ist auf DVD und Blu-Ray erschienen (ab 13,99 Euro) sowie als Video on Demand erhältlich (ab 3,99 Euro).

© SZ vom 06.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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