Kulturpolitik in Berlin:Der Fall Dercon und die Folgen

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Chris Dercon ist ab 2017 Intendant der Volksbühne. (Foto: Rainer Jensen/dpa)

Warum muss sich der designierte Intendant der Volksbühne, Chris Dercon, schon Monate vor seinem Amtsantritt als "Fehlentscheidung" beschimpfen lassen?

Kommentar von Gerhard Matzig

Wollte man sich hier als jemand outen, dessen geistiger Grenzschutz alarmbereit und dessen mentale Mauer hoch ist, so wären jetzt diese Fragen zu stellen: Wird es dem designierten Berliner Kultursenator Klaus Lederer in seinem kunstsinnigen Amt von Nutzen sein, dass er einst die Polytechnische Oberschule und später ein naturwissenschaftliches Gymnasium besucht hat? Dass er sodann ein Studium der Rechtswissenschaften absolvierte, wie man es sich - gipfelnd in einer Dissertation über den Strukturwandel kommunaler Wasserdienstleister - kaum kunstferner vorstellen kann?

Solche Fragen nach einer irgendwie gearteten bildungsbiografischen Kohärenz wären an bornierter Ignoranz kaum zu überbieten. Richtig ist es dagegen, den Politiker (Die Linke) erst mal seinen Job machen zu lassen und zu hoffen, dass er darin das Richtige und somit auch das Rechte tut, selbst wenn lechts nicht rinks ist.

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Warum also muss sich Chris Dercon, der auch "designiert" ist, nämlich als Intendant der Volksbühne ab 2017, seit Monaten darum bemühen, als Theaterwissenschaftler (der er auch ist) wahrgenommen zu werden? Und warum muss er sich beschimpfen lassen - und zwar vorab von Lederer - als "Fehlentscheidung", der für einen "neoliberalen Kunstbetrieb mit globaler Jetset-Attitüde" stehe? Das stammt aus Lederers Wahlkampf, in dem er auch versprochen hatte, die Volksbühnen-Intendanz neu zu regeln. Neoliberal. Betrieb. Global. Jetset. Attitüde.

Richtig wäre es, Dercon erst mal seinen Job machen zu lassen

Ist man in Berlin schon dann ein politischer Hoffnungsträger, wenn man es schafft, auf gedanklich möglichst engem Raum möglichst viele bejohlbare Klischees zu versammeln? Is dit Berlin, die weltläufige Metropole? Richtiger wäre auch hier: Dercon erst mal seinen Job machen zu lassen - und dann darüber zu befinden, ob die Entscheidung eine "Fehlentscheidung" ist. Oder eben nicht. Alles andere ist ein dumpfes und an Hysterie grenzendes, post-, ja präfaktisches Vorurteil. Also Wahlkampf, wie ihn auch Donald Trump geführt hat.

Berlin ist kein Einzelfall - eher ein Paradebeispiel. Zu sehen ist, worauf Streitereien und Personalquerelen im Kulturbetrieb auch anderswo fußen: auf Besitzstandsdenken, Verlustängsten, Ressentiments und bürokratischem Furor. Gekämpft wird gegen all die Grenzen, die sich öffnen - zum Beispiel, was für ein Wahnsinn, die zwischen darstellender und bildender Kunst. Gerangelt wird um Zuständigkeiten und Kompetenzfelder. Verteidigt wird die allgemeine Abteilungsleitermentalität gerade dort, wo sie am wenigsten zu vermuten ist: auf dem Terrain von Kunst und Kreativität. Dort also, wo es um Ideen und nicht um Ideologie gehen müsste.

Jetzt, da überall neue Mauern versprochen und neue Grenzen gezogen werden, mutet es beschämend an, wenn Leuten wie Dercon, die nicht für das Verharren und die Resignation des Betriebs, sondern für die Osmose und Evolution der Kultur sorgen, der Ausgang gezeigt wird. Aber es passt perfekt in die Zeit.

© SZ vom 19.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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