Kindercomic "Hilda und der Mitternachtsriese":Gulliver mal anders

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Ausschnitt aus "Hilda und der Mitternachtsriese" von Luke Pearson (Foto: Reprodukt/Luke Pearson)

Heldin Hilda steht mit einem Bein in Lilliput und mit dem anderen in Brobdingnag. Ein Riese schleicht um ihr Haus und gleichzeitig wird sie von kleinen Feen wegen ihrer Größe tyrannisiert. Der Kindercomic von Luke Pearson erzählt ein wunderschönes Märchen mit der Botschaft, dass anders nicht gleich böse sein muss.

Von Daniel Wüllner

Mit seiner märchenhaften Comicerzählung Hilda und der Mitternachtsriese tritt der britische Zeichner Luke Pearson in große Fußstapfen. Das bekannteste literarische Beispiel, in dem Fremdartigkeit verhandelt wird, sind die Erzählungen über Gullivers Reisen von Jonathan Swift. Während die Einwohner von Lilliput im Vergleich zu Gulliver wie Zwerge wirken, kommen dem Helden die Menschen aus Brobdingnag wie Riesen vor. Swifts Roman ist vornehmlich als Gesellschaftskritik intendiert, gleichzeitig verweist er auf den ersten wichtigen Schritt hin zur Toleranz: auf die Selbstreflexion.

Denn Toleranz ist ein großes Wort. Fordert es neben der Einsicht, dass anders nicht schlechter bedeutet, gleichzeitig auch die entsprechende Rücksicht gegenüber dem Anderen. Noch schwieriger gestaltet sich der Versuch, der nächsten Generation diese Tugend zu vermitteln. Muss sie doch erst erkennen, dass die meisten Unterschiede, die es zu überwinden gilt, nur äußerlicher Natur sind. Der Andere hat eine andere Hautfarbe, kleidet sich anders und sieht anders aus - kurzum: er ist nicht so wie ich.

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Comicfiguren sind unsterblich - aber nicht ihre Zeichner. Entweder nehmen die Schöpfer ihre Erfindungen mit ins Grab oder sie müssen die bunten Helden quasi einem Nachfolger vererben. So gibt es von "Tim und Struppi" keine Fortsetzungen, von "Superman" dagegen unzählige. Wie die Comic-Zeichner das Schicksal ihrer Figuren bestimmen - Treue, Streit und viel Geld inklusive.

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Im Gegensatz zu Gulliver reist Pearsons junge Heldin nicht in die Ferne, sondern erlebt ihre Abenteuer vor der eigenen Haustür. Pearson leitet seine Geschichte mit einem Vorfall ein, der als Beleg für real existierende Intoleranz gilt: Steine mit Drohbriefen daran fliegen durch die Luft, lassen Fensterscheiben bersten und jagen Hilda und ihrer Mutter einen gehörigen Schreck ein. In den Briefen werden sie aufgefordert, ihr Haus und am besten gleich das Tal zu verlassen. Verfasst werden die Texte von einem unsichtbaren Feenvolk, das sich - selbst winzig klein - von der Präsenz der riesenhaft wirkenden Hilda bedroht fühlt: Sie steht mit ihren Füßen in unsichtbaren Häusern und ihre Stimme ist für die zarten Feenohren unerträglich laut.

Parabel über Toleranz

Auf ihre eigene forsche Art sucht Hilda den Kontakt zu den Fremden vor ihrer Haustür, hört sich ihre Probleme an und baut im Gespräch die Vorurteile beider Seiten langsam ab. Gleichzeitig lernt sie den titelgebenden Mitternachtsriesen kennen, eine monströse dunkle Gestalt, die des Nachts um ihr Haus herumstreift. Ebenso wie die Feen kann Hilda nicht verstehen, was er in ihrem Tal will. Somit steht sie mit einem Bein in Lilliput und mit dem anderen in Brobdingnag.

Das wunderschön illustrierte Märchen entfaltet sich zu einer Parabel über Toleranz. Je mehr die Figuren von einander erfahren, desto mehr bauen sie Vorurteile ab, bringen Verständnis für andere auf.

Hilda und der Mitternachtsriese ist kein indoktrinierender Kindercomic, nach dessen Lektüre Kinder einzusehen haben, dass anders nicht gleich böse ist. Vielmehr hilft Pearson der Imagination auf die Sprünge und gibt den großen und kleinen Lesern dennoch genug Freiraum, sich selbst über das Erzählte Gedanken zu machen. Besonders, da der Schluss nicht eindeutig ist und der Riese, wie eine Naturgewalt, Chaos anrichtet, das Hilda aber nicht mehr erschüttern kann. (ab 6 Jahren)

Luke Pearson: Hilda und der Mitternachtsriese. Reprodukt 2013. 44 Seiten, 18 Euro.

© SZ vom 05.04.2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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