Kinderbücher zum Thema Flüchtlinge:Wenn sich alles fremd anfühlt

"Bestimmt wird alles gut" von Kirsten Boie

Flucht und Fremdheit in Kinderbüchern: eine Illustration aus dem Kinderbuch "Bestimmt wird alles gut" von Kirsten Boie.

(Foto: Jan Birck / Klett Kinderbuch, 2016)

Wie erklärt man Kindern Krieg und Terror? Und wie hilft man geflüchteten Kindern, in Deutschland heimisch zu werden? Mehrere Kinderbücher versuchen, einfühlsame Antworten zu geben.

Von Silan Sarochan

Sie sind zehn und neun Jahre alt. Wie andere Kinder in ihrem Alter lieben es Rahaf und Hassan, Zeit mit Freunden zu verbringen. Rahaf spielt am liebsten mit ihrer Cousine Aycha und ihrer Puppe Lulla. Der jüngere Bruder verbringt die meiste Zeit auf dem Bolzplatz. So sah der Alltag der syrischen Geschwister zumindest vor dem Krieg aus, bevor Luftangriffe und Bombenhagel ihre Heimatstadt Homs erreichten. Seit mehr als fünf Jahren herrscht Krieg in Syrien und der Alltag der Kinder ist längst nicht mehr so friedlich. Hassan sammelt nun auch manchmal Patronenhülsen ein mit seinen Freunden. Wer die meisten findet hat gewonnen.

Szenen einer Kindheit im Kriegsgebiet - so beginnt Kirsten Boie die Geschichte der Geschwister aus Syrien, die sie in einer Flüchtlingsunterkunft in Deutschland traf. Boie hat ihnen zugehört und die Erlebnisse von Rahaf und Hassan in dem Kinderbuch "Bestimmt wird alles gut" niedergeschrieben. Auf 42 Seiten erzählt die ehemalige Lehrerin von der gefährlichen Überfahrt auf einem überfüllten Schiff und der ersten Nacht in einem Container in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft. "Wir sollten nicht nur über geflüchtete Menschen sprechen, sondern uns die Zeit nehmen, mit ihnen zu reden", sagt die Kinderbuchautorin. Inzwischen wird ihr zweisprachiges Buch - die Texte sind auf Deutsch und Arabisch - in Schulen und bei der Arbeit mit traumatisierten Kindern verwendet.

Fast die Hälfte aller Geflüchteten weltweit sind Kinder. Insgesamt sollen laut Jahresbericht des UN-Flüchtlingswerks im vergangenen Jahr 28 Millionen Minderjährige ihre Heimat aus Angst vor Krieg und Terror verlassen haben. Mit einer neuen Sprache und fremden Kultur konfrontiert, versuchen die Kinder, Erlebtes zu verarbeiten und die Hürden des Alltags in der neuen Heimat zu meistern. Rahaf, die Protagonistin in Boies Buch, verliert auf dem Weg in eine unbekannte Welt ihre vertraute Begleiterin. Schleuser nehmen der Familie sämtliches Gepäck ab, darunter ist ein Rucksack, in dem Rahafs geliebte Puppe Lulla reist.

Wie schafft man Verständnis auf beiden Seiten?

Verlust, Angst, Ungewissheit - mit diesen Dingen müssen geflüchtete Kinder genauso fertig werden wie Erwachsene. Mit einem Unterschied: Für Erwachsene gibt es mittlerweile zahlreiche Hilfsangebote, die beim Zurechtfinden in der fremden Kultur helfen sollen. N-tv-Moderator Constantin Schreiber etwa erklärt in seinem fünfminütigen Format "Marhaba - Ankommen in Deutschland", was das Integrationsgesetz für Flüchtlinge bedeutet, aber auch, warum es ganz selbstverständlich ist, dass Frauen in Deutschland auch mal raspelkurze Haare haben. Einen anderen Blickwinkel hat der syrische Filmemacher Firas al-Shater: Auf Youtube bringt er seinen Abonnenten Deutschland aus Perspektive eines Flüchtlings näher.

Den vergleichsweise zahlreichen Angeboten für Erwachsene steht bislang eine überschaubare Zahl an Kinderbüchern gegenüber. Viele deutsche Verlage widmen sich nun dieser Herausforderung und versuchen sich an Literatur für Kinder. Die Bücher richten sich sowohl an geflüchtete Kinder (und ihre Familien), als auch an Kinder, die plötzlich im Kindergarten oder in der Schule mit der Flüchtlingskrise konfrontiert sind. Auch wenn ihnen das Wort vielleicht nichts sagt. Mit einfacher Sprache und passenden Illustrationen sollen sie an das Thema herangeführt werden, abseits der mitunter umstrittenen Berichterstattung über Geflüchtete.

Aber wie gelingt es, bei deutschen Kindern Mitgefühl für Kinder mit Fluchterfahrung zu erzeugen? Und wie wird der Zugang zu Krieg und Terror geschaffen, ohne die individuellen Geschichten zu beschönigen?

"Bestimmt wird alles gut" von Kirsten Boie

Eine Kindheit im Krieg: Illustration aus dem Buch "Bestimmt wird alles gut" von Kirsten Boie.

(Foto: Jan Birck / Klett Kinderbuch, 2016)

Kirstin Boie, die regelmäßig in der SZ-Kolumne "Familientrio" Erziehungstipps gibt, setzt auf Gemeinsamkeiten statt Unterschiede. Alle Kinder liebten die gleichen Dinge: Puppen, Fußball und mit Freunden spielen. Ob in Deutschland oder in Syrien - das spiele erst einmal keine Rolle. Lieber betont Boie die alltäglichen Freuden der Kinder. Hassan, der leidenschaftlich Fußball spielt, und die ältere Schwester Rahaf, die sich freut, als ihr ein Mädchen in der neuen Schule einen Schokoriegel schenkt. "Empathie funktioniert über Identifikation", davon ist Boie überzeugt.

Das behutsame Erzählen bei Fluchtgeschichten sei wichtig. Die Folgen eines Bombenanschlags umschreibt sie mit: "Manche Menschen sind hinterher nicht mehr aufgestanden." Bewusst verzichtet sie auf die Worte "tot" und "verstümmelt". Kinder sollen durch die Verwendung brutaler Formulierungen nicht verschreckt werden und hinterher mit Albträumen kämpfen. Der Titel ihres Buches, "Bestimmt wird alles gut", gibt den Ton vor: Hier geht es ausnahmsweise nicht um die in der Flüchtlingskrise latente Hoffnungslosigkeit, sondern um Ermutigung.

Weihnachten, Liebespaare in der Öffentlichkeit und pöbelnde Menschen

"Wenn wir sagen, wir nehmen die Menschen ernst, sollten wir uns auch mit ihrer Muttersprache auseinandersetzten", findet der Initiator des Buchprojektes "Der Drachenprinz", Holm Keller. Dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zufolge sind im aktuellen Berichtsjahr bislang 564 506 Erstanträge auf Asyl in Deutschland gestellt worden. Die meisten Personen stammen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. Die Muttersprachen der Kinder, die nach Deutschland kommen, sind vielfältig: von Arabisch, Kurdisch, Paschtu bis hin zu Farsi.

Die Geschichte des Drachenprinzen wurde deshalb neben der deutschen Originalfassung in acht Sprachen übersetzt. Über soziale Netzwerke suchte die Gruppe um Keller nach Übersetzern. Im Team entstanden Texte, die dann von der Deutschen Welle in den jeweiligen Sprachen eingesprochen wurden. Die Hörbucher stehen im Internet zum Download bereit. Die gedruckte Ausgabe wird seit Mitte September an Kinder in den zentralen Anlaufstellen für Geflüchtete in zunächst 12 Bundesländern verteilt. "Der Drachenprinz" soll ihnen und ihren Familien helfen, Deutschland zu verstehen und Deutsch zu lernen.

Hineingeworfen in eine unbekannte und unverständliche Welt

Dass sich Kinder auch ohne Sprachkenntnisse verständigen können, erzählt Irena Kobald in ihrem Buch "Zuhause kann überall sein". Für ihre junge Ich-Erzählerin Wildfang fühlt sich in Deutschland zunächst alles fremd an: das Essen, die Tiere und Pflanzen - "sogar der Wind fühlte sich fremd an". Erst durch eine neue Freundschaft gelingt ihr der Zugang zur neuen Kultur. Ein Buch als Anleitung zum Aufeinanderzugehen. "Kindern gelingt das besser als Erwachsenen, sie sehen im Gegenüber einfach einen Freund zum Spielen. Das Verstehen ist erstmal weniger wichtig", meint Kobald.

Auch im "Drachenprinz" ist Freundschaft ein zentrales Motiv. Hier heißen die Protagonisten Lisa und Yasin. Im Umgang miteinander lernen sie die Kultur des jeweils anderen kennen. Weihnachten, Liebespaare in der Öffentlichkeit und pöbelnde Menschen - auf diese Themen sucht Yasin eine Antwort, wie so viele geflüchtete Kinder, die in Deutschland in eine unbekannte und manchmal unverständliche Welt geworfen werden.

Eine zentrale Botschaft des Buches: Aus welchem Land ein Mensch stammt oder welchen Glauben er praktiziert, ist kein Grund, diesen Menschen zu beleidigen. Ein Buch nicht nur für Kinder.

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