Asylpolitik:So leiden geflüchtete Kinder in Deutschland

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Eine kindgerechte Umgebung? Die sieht wohl anders aus. Ein Junge spielt in einer Halle auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof in Berlin. (Foto: Tobias Schwarz/AFP)
  • In welchem Umfang geflüchtete Kinder in Deutschland betreut werden, ist Zufall. Es gibt keine gezielte Erfassung und zu wenige Richtlinien.
  • Das geht aus einem Unicef-Report hervor. Dieser bemängelt das komplizierte System der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen.
  • Unicef warnt, dass sich die Lage für geflüchtete Kinder seit dem vergangenen Sommer in Deutschland verschlechtert hat.

Von Ulrike Heidenreich, München

Er ist 15 Jahre alt, kam alleine aus Somalia. Bis nach Hamburg hatte er es geschafft, dann drehte er in einer betreuten Wohnung durch. Die Räume erinnerten den Jungen an ein Gefängnis in Libyen, in dem er auf der Flucht festgehalten und schwer misshandelt worden war. Er zitterte, weinte, hielt es nicht aus dort. Der Junge, so zynisch es klingt, hatte Glück. Er wurde von Psychiatern betreut; diese erkannten die Ursache seiner Angst und brachten ihn woanders unter.

Es ist reiner Zufall, in welchem Umfang geflüchtete Kinder in Deutschland betreut werden. Dies ist von Stadt zu Stadt, von Bundesland zu Bundesland verschieden. Es gibt keine systematische Erfassung und zu wenige Richtlinien. Das Kinderhilfswerk Unicef warnt, dass sich die Lage für geflüchtete Kinder seit dem vergangenen Sommer in Deutschland verschlechtert hat.

Vor allem die neu geschaffenen "Sondereinrichtungen" für Menschen mit schlechter Bleibeperspektive bereiten dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen Sorge. Im Lagebericht zur "Situation der Flüchtlingskinder in Deutschland", welcher der Süddeutschen Zeitung vorliegt, wird von ersten Erfahrungen in diesen oft trostlosen "Aufnahme- und Rückführungseinrichtungen" berichtet, in denen vor allem Asylsuchende aus den Balkanstaaten auf ihre Abschiebung warten. Die Kinder gingen weder zur Schule, noch gebe es alternative Bildungsangebote für sie - obwohl sie häufig sechs Monate oder noch länger dort leben. Laut Unicef eine klare Missachtung der Kinderrechte. Kinder, die mit ihren Familien bereits auf Kommunen verteilt und sogar in Schulen integriert waren, seien dort herausgerissen worden, um in die Sondereinrichtungen gebracht zu werden.

Flüchtlingskrise ist vor allem für Betroffene eine Krise

Nächtliche Abschiebungen von Familien, die nicht freiwillig ausreisen, sind ein weiteres Problem. "Ohne Vorwarnung mitten in der Nacht von der Polizei abgeholt zu werden, ist für die Kinder ein Schock", sagt Christian Schneider, Geschäftsführer von Unicef Deutschland. Gut ein Jahr nach Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise wolle man zeigen, dass diese vor allem für die Betroffenen eine Krise ist.

In der Flüchtlingsambulanz für Kinder und Jugendliche am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf werden pro Quartal etwa 300 Minderjährige behandelt, auch jener 15-Jährige aus Somalia. Die ärztliche Leiterin Areej Zindler berichtet: "Fast alle Kinder bei uns waren Zeugen von Gewalt, haben selbst Gewalt erlitten oder miterleben müssen, wie andere im Mittelmeer ertrunken oder in der Wüste verdurstet sind." Sie bemängelt das Fehlen eines Screenings, um kranke Kinder zu identifizieren, notwendig sei unter anderem, dass die Dolmetscherkosten von den Krankenkassen übernommen werden. Die Anhörung von Minderjährigen über ihre eigenen Fluchtgründe ist in den Asylverfahren nicht zwingend vorgeschrieben.

"Kinderspezifische Aspekte wie Zwangsrekrutierung, Kinderarbeit oder Frühehen kommen so nicht zur Sprache. Die Prüfung des Kindeswohls wird bei den neu geschaffenen Asyl-Schnellverfahren allein aus Zeitgründen noch schwerer möglich sein", befürchtet Schneider. Weil sich die Zeitspanne, die Kinder mit ihren Familien in Not- und Erstaufnahmeeinrichtungen verbringen, deutlich verlängert hat - nämlich von ursprünglich maximal drei auf sechs Monate oder mehr - verzögert sich auch der Besuch von Kindergärten und Schulen.

Kompliziertes System der Zuständigkeiten

Der Unicef-Report bemängelt das komplizierte System der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Die Folge seien lange Wartezeiten, die Kinder gerade in Großstädten in umfunktionierten Turn- oder Messehallen unter schlechten sanitären und gesundheitlichen Bedingungen verbringen müssen. Es mangele an Schutzräumen für Frauen und Kinder zur Vorbeugung von Gewalt - während wegen des Rückgangs der Flüchtlingszahlen in anderen Regionen bessere, kindgerechte Unterkünfte leer stehen.

Innerhalb der Gruppen von Flüchtlingskindern in Deutschland sind außerdem große Unterschiede zu beobachten. "Die Behörden behandeln sie regional sehr unterschiedlich, ihre Situation hängt stark vom Zufall ab", heißt es im Bericht. Jugendliche mit guter Bleibeperspektive, etwa aus Syrien, dürften schneller Sprachkurse und Berufsschulen besuchen als Minderjährige aus Afghanistan oder Somalia, obwohl auch diese hohe Anerkennungsquoten in den Asylverfahren haben.

Das deutsche System erfasst die Daten über Kinder denn auch nur unzureichend: Es gibt keinen Überblick darüber, wie viele Kinder in Massenunterkünften leben und wie alt sie sind. Fehl- und Doppelerfassungen sind die Folge. Die einzig sichere Zahl: Ende Februar befanden sich 60 000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Obhut der Jugendämter. Um auch den Kindern und Frauen in Unterkünften mehr Sicherheit zu geben, hat Unicef gemeinsam mit Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) eine Kampagne gestartet. Der Titel: "Letzte Chance für eine Kindheit".

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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