Im Kino: Mademoiselle Chambon:Wir sind ja schließlich erwachsen

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Amour fou auf Zeit: In "Mademoiselle Chambon" entwickelt sich zwischen einem verheirateten Mann und der Lehrererin seines Sohnes eine unerklärliche Liebe - zart und ohne erotisches Glimmen.

Fritz Göttler

Das gefällt mir gar nicht, sagte Vincent Lindon, der den Mann spielt in diesem Film, als der Regisseur Stéphane Brizé ihm das Drehbuch gab, eine kleine Love Story zwischen einem verheirateten Mann und einer Lehrerin, nach dem Roman von Eric Holder. Brizé erzählte ihm, er würde gern die Rolle der Frau mit Sandrine Kiberlain besetzen. Ein Vorschlag, der Lindon gehörig durcheinanderbrachte.

Sinnliches Spiel auf der Violine: Sandrine Kiberlaine ist Mademoiselle Chambon, eine Lehrerin, die den Vater eines Schülers verzaubert. (Foto: dpa)

"Das gefällt mir gar nicht ... Aber andererseits geht das auch nicht, dass Sandrine eine so schöne Rolle sausen lässt. Also gib ihr das Drehbuch, und wenn sie Lust hat, das zu machen, werden wir uns zusammensetzen und darüber reden. Wir sind ja schließlich erwachsen." Vincent Lindon und Sandrine Kiberlain, viele Jahre waren sie verheiratet, inzwischen getrennt, eine gemeinsame Tochter, nun sollten sie im Kino eine große Liebe spielen in einer kleinen Stadt.

Kiberlain ist die Lehrerin Mademoiselle Chambon, Lindon ist der Maurer Jean, der in einem kleinen Team arbeitet, in gelassener Selbstständigkeit. Sein Sohn geht in die Klasse von Chambon, und als er ihn abholt, fragt sie ihn, ob er nicht mal in den Unterricht kommen mag, um über sich und seine Arbeit zu erzählen, so, wie das viele Väter tun.

Jean kommt und stellt sich vor die Klasse in seinem Flanellhemd, die Ärmel hochgekrempelt, und er erzählt, was sein Handwerk ihm bedeutet und der Umgang mit den Menschen, den er durch sie hat. Véronique, die Lehrerin, steht an der Wand des Klassenzimmers und schaut und lauscht, in einem einfachen Sommerkleid, die Haare straff zum Zopf zusammengefasst, eine Strähne über die Stirn.

Die Kamera erfasst sie frontal und bewegt sich langsam, unmerklich langsam auf sie zu, um der Veränderung nachzuspüren, die in diesen Minuten in ihr vorgeht, man weiß nicht, schaut sie noch auf den Mann oder starrt sie ins Leere, jene Leere ihres Lebens, der sie sich langsam bewusst wird. Ein Moment der Starre, der Paralyse, des Schocks, und die Kamera erfasst alles in ihrem Gesicht, das Begehren und das Erschrecken darüber, das Unbehagen und die Verzweiflung, und eine Ahnung von Vergeblichkeit.

Ein Lehrfilm für Stendahl

Diese Frau, die plötzlich merkt, es könnte mehr geben in ihrem Leben als der Himmel erlaubt, die zögernd, aber doch beharrlich daran denkt die Chance zu nutzen zum Ausbruch, diese Szene aus dem Provinzleben ist ein klassisches Element der französischen Literatur und des französischen Kinos - bis hin zur Nouvelle Vague, die zwar mit großstädtischer Frechheit aufgetreten ist, dann aber doch sehr gern Geschichten aus den Faubourgs oder aus den kleinen Städten erzählte.

Véronique bittet Jean zu sich in ihr Appartement, er soll einem Fenster dort einen neuen Stock verpassen. Jean kommt, er nimmt den Auftrag an und macht sich an die Arbeit, und währenddessen zieht sie sich ins Zimmer nebenan zurück mit einem Buch. Als er fertig ist, sieht er, dass sie eingeschlafen ist, ein Blick, in dem Diskretion und Verlangen intensiv zusammengehen.

Eine merkwürdige Verrücktheit steckt in der Liebe der beiden, die nichts von der Heftigkeit hat, die sich sonst mit dem Begriff des amour fou verbindet. Diese Liebe ist nie hitzig, ist wie ein magisches Glimmen, ein erotisch schwelender Brand. Ein Film, in dem die Leute sich zurückziehen, um mit den anderen zu kommunizieren - nicht mal Blicke brauchen sie.

Einmal sitzen Jean und Véronique nebeneinander auf der Couch, sie hat Musik aufgelegt, einmal geht kurz ein Zucken durch ihren Körper, dann nimmt er ruhig ihre Hand. "Liebe ist die Freude, ein liebenswertes und liebendes Wesen mit allen Sinnen und in nächster Nähe zu sehen, zu berühren und zu fühlen." Ja, man könnte das als Lehrfilm ansehen, für das, was Stendhal in "De l'amour" die Arbeit der Kristallisierung nennt - wie der Liebende mit schöpferischer Zuneigung sich den geliebten Menschen schafft.

Eine Liebe auf der Flucht

Eine Liebe, die irgendwie unerklärlich bleibt, da ist kein Defizit im Leben von Jean, das ausgeglichen werden müsste, ein Mann, der sich in seiner Arbeit findet und definiert - der Film lässt Vincent Lindon lange mit Vorschlaghammer und Kelle arbeiten -, und der in der Familie so konstruktiv funktioniert wie in seinem Handwerk; auf einem Ausflug sieht man die drei an einer Definition der transitiven Verben arbeiten.

Véronique kompensiert ihre Einsamkeit im Violinspiel. Kiberlain ist nach Melanie Laurent in Das Konzert der zweite französische Kinostar, der sich in diese Kunst vertiefen musste. Edward Elgar gehört bei Véronique zur Familie, sie hat ein Porträt neben dem Sofa stehen, und als sie zum Geburtstag von Jeans Vater kommt, spielt sie eine Sonate von Elgar - diese Musik ist ein unfasslich schamloser Akt der Offenbarung, und natürlich merkt Jeans Frau in diesem Moment, was passiert.

Eine Liebe auf Zeit, eine Liebe auf der Flucht. Mademoiselle Chambon hat nur einen Zeitvertrag, und sie will zurück nach Paris. Sie hat nicht die Absicht zu bleiben, in der Wohnung, in der Jean für sie tätig war.

Mademoiselle Chambon, F 2009 - Regie: Stéphane Brizé. Buch: Stéphane Brizé, Florence Vignon. Nach dem Roman von Éric Holder. Kamera: Antoine Héberlé. Musik: Ange Ghinozzi. Schnitt: Anne Klotz. Mit: Vincent Lindon, Sandrine Kiberlain, Aure Atika, Jean-Marc Thibault, Arthur Le Houérou, Bruno Lochet, Abdallah Moundy, Anne Houdy, Michèle Goddet. Arsenal, 101 Minuten.

© SZ vom 12.08.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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