Literatur:Wie kann man in einer globalisierten Welt heimisch werden?

Fest der Jainas in Indien

Indien, 2018: Gläubige am Fuß einer Statue des Gottes Gomateshwara. Stefan Weidner erhofft für die Globalisierung eine neue „transzendente Instanz“.

(Foto: dpa)

In seinem Buch "Jenseits des Westens" sucht Stefan Weidner nach Auswegen aus dem konfrontativen Kulturnarzissmus Europas.

Von Alex Rühle

"Entfremdung" ist ein mehrfach negativ konnotiertes Wort. Zum einen umreißt es das defizitäre Lebensgefühl des modernen Menschen, der sinnlos und schal vor sich hinmurkelt in hyperkomplexen Zusammenhängen. Zugleich ist es ein Wort, das für Paare oft das Todesurteil bedeutet - aus der großen Nähe und dem Wunsch nach Verschmelzung resultieren am Ende Beziehungsödnis und Entfremdung.

Was aber, wenn man die Entfremdung mal ganz anders versteht, nämlich so wie Stefan Weidner am Anfang seines großen Versuchs über ein neues kosmopolitisches Denken: als Ende oder momentane Aufhebung der grundlegenden Fremdheitsgefühle. Weidner erinnert sich an seine erste Fernreise, als Jugendlicher, allein nach Marokko. Im Marrakesch der frühen Achtzigerjahre wird er überwältigt von der Herzlichkeit der Bewohner und davon, in was für leidenschaftliche Gespräche sich da völlig fremde Menschen miteinander stürzen. "Die Fremde ent-fremdete mich, machte, dass ich mich weniger fremd fühlte - zuerst mir selbst gegenüber, dann im Verhältnis zu meiner Umwelt. Auch wenn oder weil ich nur ein Gast war, fühlte ich mich zu Hause." In der größten Fremde also fühlte Weidner damals ein intensiveres Gefühl von Geborgenheit, Angekommensein als im heimatlichen Köln.

Wie kann man in der Fremde heimisch werden, ohne einfach nur ein Vielflieger zu sein?

Im Grunde umreißt diese Anekdote aus einem marokkanischen Taxi empirisch das, was Weidner auf den kommenden 300 Seiten theoretisch versucht: Wie könnte man in der Welt heimisch werden, ohne einerseits in die Falle der Identitätspolitik zu laufen, ohne aber auch einem postmodern beliebigen Nomadentum des besserverdienenden Vielfliegers das Wort zu reden, dem angeblich die ganze Welt zu Füßen liegt, jetzt wo der Westen allen anderen Kulturen seine universalistische Matrix aufgedrückt hat?

Hinter diesem Versuch, Fremdheit und Heimat in eine neue dialektische Beziehung zueinander zu setzen, liegt aber der noch viel wichtigere Versuch, den eben erwähnten universalistischen, kosmopolitischen Anspruch des Westens als selbstherrlichen Narzissmus und Lebenslüge einer ganzen Weltgegend zu dekonstruieren.

Der Westen, so Weidners Kernthese, definiert sich in herabsetzender Abgrenzung vom Rest der Welt. Entweder geschichtsphilosophisch als Endpunkt der Menschheitsgeschichte (Francis Fukuyama) und damit als System, dem sich alle anderen schon anschließen werden, wenn sie seine Überlegenheit nur erst anerkennen. Oder aber in aggressiv-identitärer Abgrenzung, so wie Samuel Huntington es auf fast schon biologistische Art und Weise durchexerziert hat: Es gibt unterschiedliche Kulturen, die miteinander unvereinbar sind, und die sich heute, da der Westen das kulturell, wirtschaftlich und in Sachen Demokratie vorbildliche System ist, nur in scharfer Abgrenzung davon definieren können.

Beiden Theorien, der geschichtsphilosophischen wie der kulturessenzialistischen, ist das Fremde immer sowohl das per se Unterlegene als auch das Gefährliche, Andere. Etwas, das ausgeschlossen, besiegt oder kulturell eingemeindet werden muss. Was in Weidners Augen nur eine späte Konsequenz aus der Reaktion der Aufklärung auf Gottes Tod ist.

Weidner erzählt die Geschichte der Moderne über den Begriff der nachmetaphysischen Entfremdungserfahrung. Der Mensch fühlte sich immer fremd in der Welt, hatte aber lange den Trost der Hoffnung auf ein endgültiges Geborgensein im Jenseits der Religionen. Dieser Weg ist uns seit der Säkularisierung versperrt, der Himmel ist leer. Weshalb der moderne Mensch das Heilsversprechen aufs Diesseits verlagerte und auf unterschiedliche und miteinander konkurrierende Arten und Weisen versucht hat, sich nicht mit der Fremdheit zu versöhnen, sondern diese aufzuheben, zu beseitigen.

Weidner ist Kulturvermittler, kein Philosoph

Im Grunde, so Weidner, laufen all diese Versuche auf drei Paradigmen des Umgangs mit dem Fremdheitsproblem heraus: Im Entwicklungsparadigma versucht der Mensch, sich auf eine bessere Zukunft hin zu entwerfen. Der politische, technische, soziale, digitale Fortschritt wird's schon richten, wir müssen nur die Welt noch weiter nach unseren Bedürfnissen umbauen, dann wird das schon. Dem Eigentlichkeitsparadigma zufolge muss hingegen nicht die unzureichende Welt durch Technik oder Politik verändert werden, vielmehr ist die Heimat immer schon vollkommen, es stören nur entweder die Fremden oder die technische Zivilisation. Beiden Paradigmen liegt eine große "Entfremdungsintoleranz" zugrunde.

Das dritte Paradigma des Umgangs mit unserer Fremdheit in der Welt ist das existenzialistische. Es versucht, die Fremdheit, das Geworfensein, die Unbehaustheit als Grundbedingung zu akzeptieren und aus ihr heraus eine Lebenshaltung zu finden. Dieses Leben muss aber mit einer Grundstimmung der Tragik und einer Skepsis allen Verheißungen gegenüber klarkommen. Weshalb Weidner sich fragt, ob diese Haltung "eine brauchbare Vision, eine empfehlenswerte Haltung darstellt". Ihm selbst scheint die viel freundlichere, menschengerechtere Lösung eine "transzendente Instanz". Er setzt also dem versteckten quasi religiösen Versprechen der Aufklärung die Religion selbst entgegen. Allerdings nicht als Dogma, sondern als eine aufgeklärte Leerstelle, eine hypothetische Position außerhalb der Menschheit, ähnlich Gandhis Gottesbegriff der "Wahrheit".

Braucht man noch Transzendenz, wenn das Recht die wahre Heimat der Menschen ist?

Weidner, geboren 1967, ist einer der großen Kultur- und Sprachübersetzer unserer Tage, er hat als Arabist und Islamwissenschaftler arabische Lyrik ins Deutsche gebracht, als langjähriger Chefredakteur der vom Goethe-Institut auf Englisch, Arabisch und Persisch herausgegebenen Zeitschrift Art&Thought / Fikrun wa Fann permanent den Dialog zwischen den Kulturen gepflegt und erklärt als Publizist immer wieder auch auf unseren Feuilletonseiten den Nahen Osten, der uns oftmals so fern erscheint. Weidner ist also kein Philosoph, sondern ein Kulturvermittler.

Blick ins Buch

Das ist Schwäche und Stärke des Buchs zugleich. Er kann nicht wirklich stringent erklären, wie der westliche Mensch nach 250 Jahren Aufklärung und Säkularisierung nun zurückfinden soll in ein spirituell-religiöses Grundempfinden, das weder im Dogma der herkömmlichen Religionen erstarrt noch sektiererischem Aberglauben anheimfällt. Zwar findet er mehrfach überraschende Anschlüsse für seine Forderung nach dieser "maßstabsetzenden Instanz". Der wichtigste dürfte die Engführung mit Hannah Arendts Satz vom "Recht auf Rechte" sein, dem Recht jedes Menschen, innerhalb eines Rechtssystems zu leben. Dieses Meta-Recht auf Rechte ist eine höhere Instanz, die es überhaupt erst ermöglicht, unterschiedliche Rechtssysteme zu akzeptieren. Und das Recht wird, um mit Bernhard Schlink zu sprechen, zur wahren Heimat des Menschen. Ob es dafür aber wirklich Transzendenz braucht? Und wenn ja, ist die am Ende mehr als eine Art Grundmilde der Welt gegenüber aus der Einsicht in die Vorläufigkeit aller Narrative heraus?

In seinem Nachwort schreibt Weidner, es wäre töricht, in einem Buch wie diesem, in das so viele Texte eingegangen seien, von "einem Autor" zu sprechen, das Ganze sei "wenig mehr als ein kuratierter Mitschnitt, Auszug eines unendlich viel größeren Gesprächs". Das ganze Buch will sich also von vornherein eher als synkretistische Zusammenschau, thetisches Weltensammleralbum, vehementen Einspruch für eine Vielzahl gleichberechtigter, immer nur vorläufiger Narrative anstelle des westlichen Kosmopolitismus.

Das bedeutet nicht, dass er die Aufklärung einfach über Bord wirft, er will nur die mit ihr einhergehende Überlegenheitsanmaßung überwinden, den immergleichen Fehler, "für sich selbst die Wahrheit zu beanspruchen und risslose, entfremdungsintolerante und Geschlossenheit beanspruchende Narrative in die Welt zu setzen". Großartig, wie er etwa Hegels Lektüre der indischen Denker dekonstruiert - der große Autor der "Phänomenologie" schrumpft hier zum gehässigen Blockwart, der sich von Anfang an zum Ziel gesetzt hat, diese verdammten Inder nicht in seinen Gedankenpalast zu lassen. Also macht er einen Popanz aus ihnen, zeigt dann drauf und sagt, seht her, die Bhagavad Gita, ein Popanz.

Wenn das Lesen selbst als Teil des von Weidner im Nachwort erwähnten großen Gesprächs gedeutet werden darf, dann kann man hier sagen: lange nicht so gut unterhalten. Und schon lange nicht mehr mit einer ähnlich langen Leseliste aus einem Text wieder aufgetaucht. Unbedingt Arendt lesen. Und erst recht die Bhagavad Gita.

Stefan Weidner: Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken. Hanser Verlag, München 2018. 368 Seiten, 24 Euro.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: