Was heißt, der Islam "gehört" oder "gehört nicht" zu Deutschland? Das ist eine der guten Fragen, die Georg M. Oswald in seinem Buch "Unsere Grundrechte" stellt, als habe er nicht nur Christian Wulffs berühmten Satz präsent, sondern schon Horst Seehofers jüngsten Einspruch vorausgeahnt. Jeder dritte Deutsche ist konfessionslos - "gehört" daher die Konfessionslosigkeit zu Deutschland? Zum "christlich-jüdischen" Deutschland oder zu welchem Deutschland? Soll mit der Zugehörigkeit eines Bekenntnisses nur gemeint sein, dass auf deutschem Territorium eine hinreichende Menge seiner Anhänger lebt, dann ist die Aussage trivial. Oder verbirgt sich dahinter der Zweifel, ob eine bestimmte Religion mit "unserer Kultur vereinbar" ist? Dann allerdings gerät man auf das gefährliche Terrain, das eine Verfassung wie das Grundgesetz unbedingt meiden will. Aus gutem Grund geht es ihm nicht um landestypisch-kulturelle Besitzstände, sondern um Freiheiten. In diesem Fall um die Religionsfreiheit.
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Wenn es um den Aufbau von Feindbildern geht, ist Horst Seehofer und seiner Partei inzwischen anscheinend jedes Mittel recht.
Genügt also schon der Hinweis auf die positive und negative Glaubensfreiheit, um dem Problem den Boden zu entziehen? So naiv ist Oswald nicht. Die religiöse Neutralität des Staates bezweckt ja gerade, den Religionen innerhalb der Gesellschaft ihren freien Raum zu lassen, ungehindert von hoheitlicher Lenkung. Und keineswegs unterstellt dies, dass sich die diversen Bekenntnisse in der Gesellschaft ihrerseits gegenseitig neutralisieren, dass also kein Glauben die anderen kulturell dominiert. Die Hegemonie einer Religion oder eines weltanschaulichen Mainstreams unter den Bürgern sind mit dem säkularen Staat absolut verträglich. Nur eines darf er nicht, er darf eine solche geistige Hegemonie weder von oben dekretieren noch bekämpfen. Deshalb vergreifen sich sowohl Wulff als auch Seehofer, wenn sie mit der Kraft ihres Amtes dem Islam einen Rang im Land zu- oder absprechen.
Gehört der Islam hierher oder nicht hierher? Das Recht fragt nur nach der Freiheit der Religion
Allerdings legt Oswald solche eindeutigen Schlussfolgerungen eher nahe, als dass er sie selbst zieht. Das nimmt dem Buch nichts, weil es mit seinem offenen, frageweisen Stil ohnehin wenig gemein hat mit einer Streitschrift. Das Genre, das er hier für seinen Anlass kreiert, könnte man interventionistische Staatsbürgerschulung nennen.
Oswalds Beweggrund ist das politische Unbehagen, das inzwischen selbst ein von Wohlstand und jahrzehntelangem Frieden privilegiertes Land wie Deutschland ergriffen hat. Auch wenn andere westliche Staaten stärker darunter leiden, dass immer mehr Bürger nicht nur der politischen Klasse, sondern dem politischen System insgesamt ihr Vertrauen entziehen, ist auch dieses Land nicht mehr vor der grassierenden "Legitimationskrise der parlamentarischen Demokratie" gefeit.
Dem naheliegenden Reflex, sich darum vor allem mit der demokratischen Beteiligung, den Wahlen, der politischen Verdrossenheit oder auch dem Souveränitätsschwund des Nationalstaats zu befassen, widersteht Oswald. Stattdessen konzentriert er sich allein auf die Grundrechte. Das ergibt Sinn nicht nur, weil die wenigsten mit dieser bundesrepublikanischen Magna Carta genügend vertraut sind, um ihre volle Bedeutung für die offene Gesellschaft zu durchschauen. Vielmehr auch deshalb, weil die Erörterung der einzelnen Grundrechte, angefangen bei der problemreichen Menschenwürde bis hin zum noch problemreicheren Asylrecht, natürlich auf jene heißen politischen Themen stößt, die heute so vielen unter den Nägeln brennen.
Nichts bietet am Ende zwingendere Gründe gegen die populistische Versuchung als die Freiheitsrechte. Ausgeschöpft ist ihre so konstitutive wie vieldeutige Substanz für die politische Gestaltung noch lange nicht. Auch Oswald kann dafür nur einen kursorischen Einblick geben, was aber schon deshalb verdienstvoll ist, weil er die nur "vordergründig verständliche Sprache des Grundgesetzes", wie sie Andreas Voßkuhle, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, einmal bezeichnete, mit brauchbarem Wissen und Konfliktstoff anreichert, damit sie als Argumente im öffentlichen Diskurs tatsächlich Wirkung erzielen können. Grundrechte, die nur als schöne, aber ausdrucksschwache Statuen in der Debatte herumstehen, nützen niemandem.
Hier kommt dem Juristen Oswald die sprachliche Wachsamkeit des Schriftstellers Oswald zu Hilfe - wenn auch nicht ohne gelegentliche Ermüdungsschäden. So wichtig es ist, den juristischen Jargon anschlussfähig zu machen für die öffentliche Problemsprache, so wenig bringt es, wenn der Anlauf dann in tautologische Orakel mündet: Bei "fairen Verfahren ... ist es wie mit dem Recht überhaupt: Nur wenn es richtig und in gutem Sinn angewandt wird, führt es auch zu guten Ergebnissen." Trotzdem sind diesem Buch Leser in großer Zahl und in allen politischen Lagern zu wünschen. Es gibt, und das macht das Buch allemal plausibel, keine demokratische Zukunft, die nicht auf den gewussten, praktizierten und immer wieder neu diskutierten Grundrechten aufbaute. Gerade solche Bürger, die gegenwärtig das Abendland gegen die Zumutungen der Freiheit verteidigen wollen, können hier in ebenso unaufdringlicher wie selbstprüfender Manier erschließen, dass es das Abendland mit seiner genuinen Aufklärungstradition selbst ist, das sich in diesen Zumutungen spiegelt.
Georg M. Oswald , Unsere Grundrechte - Welche wir haben, was sie bedeuten und wie wir sie schützen. Piper Verlag, München 2018. 208 Seiten, 20 Euro