Fotografieren ohne Kamera:Wonne, Mond und Sterne

Die Schattenfängerin: Künstlerin Susanne Derges nutzt nächtliche Landschaften als Dunkelkammer und stellt ihre Fotogramme zurzeit in London aus. Aber wie geht Fotografieren ohne Kamera?

Susanne Popp

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(Foto: Susan Derges: Gibbous Moon - Alder)

Die Schattenfängerin: Künstlerin Susanne Derges nutzt nächtliche Landschaften als Dunkelkammer und stellt ihre Fotogramme zurzeit in London aus. Aber wie geht Fotografieren ohne Kamera? "Shadow Catchers: Camera-less Photography" ist der Titel einer Ausstellung im Victoria and Albert Museum in London, die derzeit einen alten Hut erfrischend neu entdeckt: das Fotografieren ohne Kamera. Die Künstler Floris Neusüss, Pierre Cordier, Susan Derges, Garry Fabian Miller und Adam Fuss stellen allesamt Fotos aus, die ohne Kamera entstanden sind, sogenannte Fotogramme. Das hübsche Spiel geht auf die Experimente des Fotopioniers William Henry Fox Talbot zurück. Bereits um 1840, zur Frühzeit der Fotografie, tränkte er Schreibpapier mit Kochsalz und Silbernitratlösung und belichtete darauf Gegenstände mit Sonnenlicht. Später sollten ihm Künstler wie Man Ray, Lászlo Moholy-Nagy, Kurt Schwitters und Otto Steinert in der experimentellen Arbeit mit Licht und Schatten folgen. Ein Fotogramm ensteht grundsätzlich durch das Auflegen von Gegenständen auf lichtempfindlichen Trägermaterialien in der Dunkelkammer  - doch mittlerweile gibt es unzählige Varianten der Technik. Eine besonders malerische hat die britische Künstlerin Susan Derges entwickelt: Ihre Fotogramme sind ungefähr so groß wie ein Mensch, meist einen halben Meter breit und häufig blau getönt. Susan Derges nimmt dabei den eigenen Körper als Maßstab. Allein die Größelässt den Betrachter staunen. Hinzu kommen die rätselhaften Motive und der ungewöhnliche Winkel, der an eine filmische Froschperspektive erinnert. Indem die Künstlerin Schatten einfängt, Licht manipuliert oder die Papieroberfläche durch chemische Substanzen verändert, entsteht die spätere Schattierung ihrer Fotogramme. Das klingt mystisch und ist es auch. Text: Susanne Popp/sueddeutsche.de/rus/kar Alle Bilder: Susan Derges

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(Foto: Susan Derges: River Bovey)

Die Natur spielt in Derges Werken eine zentrale Rolle, sie ist sowohl Gegenstand als auch Produktionsmittel ihrer Bilder. Statt traditionell im Labor zu arbeiten, erklärt die Künstlerin die Nacht zur natürlichen Dunkelkammer. Bei ihren ersten Versuchen hängte sie einfaches Fotopapier in Flusswasser und belichtete es eine Mikrosekunde lang mit manuellem Blitzlicht. Das Papier schwamm davon. Mit der Zeit konstruierte sie spezielle Haltevorrichtungen, die das Papier unter der Wasseroberfläche fixierten. Die Belichtung glückte - und es entstanden verwertbare Aufnahmen, die die Struktur des Wassers, das Fließen des Flusses zeigen. Derges sieht ihre Fotogramme als Metapher dafür, wie übergangslos Grenzen entstehen und aufgelöst werden können.

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(Foto: Susan Derges: Chladni Figure 1985)

Während ihres Malereistudiums an der Chelsea School of Art und der Slade School of Art in London begann Susan Derges den Entstehungsprozess ihrer Kunst zu hinterfragen. 1982 zog sie nach Japan und entdeckte dort die Fotografie. Inspiriert vom Tokio der 1980er Jahre und den Klangexperimenten Ernst Friedrich Chladnis experimentierte sie mit Möglichkeiten der Abstraktion - wie in dem Bild "Chladni Figure" aus dem Jahr 1985.

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(Foto: Susan Derges: Eden)

Ein Jahr später kehrte sie zurück nach Großbritannien - und wollte ihre experimentellen Techniken perfektionieren: "Der Vorteil am Arbeiten ohne Kamera ist die außergewöhnlich scharfe Qualität der fertigen Bilder - jedes Staubkörnchen wird perfekt auf der Blattoberfläche abgebildet. Ohne Vermittlung einer Linse und all der Verzerrung, die diese bewirkt." Für viele Anhänger der Camera-less Photography liegt darin die Faszination ihrer Arbeit. Sie bilden nicht ab, um zu dokumentieren. Fotografieren ohne Kamera zeigt kein reales Abbild der Wirklichkeit, sondern etwas, das nie wirklich existiert hat.

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(Foto: Susan Derges: Shoreline)

Das Ziel der Arbeit mit Fotogrammen ist nicht die Objektivität. Die Vorstellung, die Natur sachlich zu vermitteln und eine gegenständliche Aufzeichnung eines Ereignisses zu schaffen, hat Susan Derges längst abgelegt: "Ich habe sehr schnell erkannt, dass Beobachtung niemals neutral ist." Unbeeinflusste Vermittlung, so die 55-jährige Künstlerin, sei auch in der Fotokunst nicht möglich. Ob mit Linse oder ohne. Sie selbst sieht sich längst als Teil ihrer Arbeit: Bei Aufnahmen zu der Wasserfall-Serie "Shoreline" zum Beispiel blieben auf dem Fotopapier, das sie in das fließende Wasser hielt, die eigenen Fingerabdrücke sichtbar.

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(Foto: Susan Derges: Aquac II)

"Ungreifbare Phänomene metaphorisch greifbar zu machen", ist Derges Ziel. Sie sieht sich dennoch ungern als moderne Alchimistin: Es genüge ihr, so die Künstlerin, wenn der Betrachter in ihren Bildern sich "selbst oder einen Teil des eigenen Ichs" erkennen könne. Im Gegensatz zur Sprache, die oft genug einen Zwiespalt zwischen dem eigenen Ich und Anderen erzeuge, zwischen Kultur und Natur, Bewusstsein und Unbewusstsein, könne die experimentelle Fotografie "Brüche und Spannungen in der Wahrnehmung heilen", so Derges. Sie will Immanuel Kants Vorstellung von der Welt als einem Ganzen aus verschiedenen Teilen in ihren Arbeiten sichtbar machen - als ganzheitliches Wesen der Natur. Alle Aufnahmen entstehen in einem praktischen, mehrstufigen Prozess. Die Fotogramme sollen ein erstes Abbild sein, das sich endgültig erst im Bewusstsein des Betrachters vollenden soll.

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(Foto: Susan Derges: Yellow Moon Honeysuckle)

Derges möchte das eigene Ich in einen größeren Sinnzusammenhang bringen. So entstand beispielsweise "Yellow Moon Honeysuckle":  Die Spiegelung des Mondes, die sie in schottischen Flüssen beobachtete, inszenierte Derges ähnlich den Holzschnittarbeiten der japanischen Künstler Hiroshige und Hokusai. Vom japanischen Ukiyo-e über impressionistische Malerei bis zur Londoner-Pop-Art - Derges sieht viele Einflüsse auf ihre Arbeit. Sie selbst aber reduziert ihren Schaffensfokus auf die ursprünglichen Aspekte unserer Zivilisation: Flüsse, Wasserfälle und Pflanzen, Mond und Sterne, unverfälschte Landschaften.

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(Foto: Susan Derges: River Bovey)

Heute ist Susan Derges vor allem für ihre Wasser-Fotogramme bekannt. Viele dieser Aufnahmen aus der "River Bovey Serie" wirken wie unter einem Blaufilter entstanden -  eine Folge der Arbeit in der Nacht, denn Vollmondlicht tönt das Papier bläulich. Eingefangene Schatten, manipuliertes Licht, fließendes Wasser - ob der Betrachter mit diesen Bildern zu "innerer Ausgeglichenheit" findet, wozu die Künstlerin nach eigenen Aussagen verhelfen will, kann jeder selbst entscheiden. Deren Schönheit allerdings liegt nicht nur im Auge des Fotogramm-Betrachters - sondern in der Schönheit und Mystik der Natur an sich. Ein guter Kunstgriff. Die Ausstelllung "Shadow Catchers: Camera-less Phtotography" ist noch bis zum 20. Februar 2011 im Victoria und Albert Museum in London zu sehen.

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