Eurovision Song Contest:Ausgewählt, um zu provozieren?

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Um Politik gehe es ihr nicht, sagt Julia Samoilowa, sie wolle einfach nur singen. (Foto: N/A)

Julia Samoilowa sollte für Russland beim Eurovision Song Contest in der Ukraine antreten. Jetzt wird ihr die Einreise verwehrt. Eine Sängerin im Zentrum eines politischen Konflikts.

Von Julian Hans und Cathrin Kahlweit

Einen Moment lang schien alles gut zu sein. "Die Ukraine ist bereit", hatten Kiewer Zeitungen noch vor wenigen Tagen getitelt, eine Delegation aller 43 Teilnehmerländer sei in der Stadt gewesen, um die Vorbereitungen für den Eurovision Song Contest zu prüfen. Und Jon Ola Sand, Chef-Supervisor bei der für den ESC verantwortlichen Europäischen Rundfunkunion (EBU), sei begeistert gewesen, schreibt Zerkalo Nedeli, "alle Fragen, die in den vergangenen acht Monaten aufgetaucht sind", seien gelöst, Sand sei "stolz und froh, mitteilen zu können, dass alles fertig ist" für den Wettbewerb.

Das war eine gute Nachricht nach so vielen schlechten, dem Rücktritt des halben Planungsteams, den Finanzproblemen, den Verzögerungen beim Ticketverkauf. Alles gut also, so sah es aus. Und nun das: Die Ukraine verweigert der russischen Kandidatin die Einreise. Kritische Reaktionen aus aller Welt, Empörung in Moskau, und eine EBU, die erklärt, man respektiere die Entscheidung, sei aber tief enttäuscht - und werde "den Dialog fortsetzen, um sicherzustellen, dass alle Künstler Mitte Mai am 62. Songcontest teilnehmen können".

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Julia Samoilowa soll in Kiew singen - wenn die ukrainischen Behörden kein Einreiseverbot verhängen. Für den Auftritt müssten sie mit einem ehernen Prinzip im Konflikt mit Russland brechen.

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Der ESC findet deshalb in Kiew statt, weil die Sängerin Jamala im vergangenen Jahr gewonnen hatte, eine Krimtatarin, sie besang das Leid ihrer von der Krim nach Sibirien deportierten Großmutter.

"Es tut uns aufrichtig leid, dass russische Polittechnologen dieses Mädchen benutzt haben"

In Kiew war bereits von dem Moment an über die jetzt verkündete Entscheidung spekuliert worden, als Russland Julia Samoilowa für den Contest nominiert hatte. Seit der Annexion der Krim muss laut ukrainischem Gesetz jedem für drei Jahre ein Visum verwehrt werden, der auf die Halbinsel reist, ohne ukrainisches Gebiet zu durchqueren. Kiew wertet Reisen in die Region als Grenzverletzung, wenn sie ohne Zustimmung der ukrainischen Behörden geschehen. Der Geheimdienst SBU verteidigt die Entscheidung entsprechend: "Es tut uns aufrichtig leid, dass russische Polittechnologen dieses Mädchen benutzt haben", sagt der Berater des Geheimdienstchefs, Juri Tandit. Vor dem Gesetz aber seien alle gleich. Ein Vizedirektor des Nationalen Sicherheitsrats betont im Gespräch mit der SZ, man habe keine Wahl gehabt: "Wir müssen uns an die Regeln halten. Wenn wir ständig Ausnahmen machen, gibt es keine Regeln mehr. Unsere Politik gegenüber der Krim und dem Donbass bestand viel zu lange nur aus Ausnahmen."

Moskau reagierte erwartungsgemäß. Das Einreiseverbot für die russische Kandidatin sei "ungeheuerlich", es handele sich um einen "zynischen und unmenschlichen Akt", zitierte Interfax den Vize-Außenminister Grigori Karasin. Wie es nun weitergeht, ist unklar. Nach der Absage hieß es zunächst aus Russland, dann schicke man eben niemanden und lasse die Künstlerin nächstes Jahr antreten.

Die EBU bot am Donnerstag noch an, Samoilowa per Liveschalte teilnehmen zu lassen, doch der russische Staatssender Perwij lehnte ab. Man lehnt sich nun allerdings wohl kaum zu weit aus dem Fenster, wenn man annimmt, dass Moskau die aktuelle Aufregung gerade recht ist. Die körperlich behinderte Künstlerin als Opfer der hartleibigen, unmenschlichen ukrainischen Behörden, die den ESC unnötig politisieren - das ist ein Propagandaerfolg. "Sie haben Angst vor Julia", verkündeten auch die Hauptnachrichten im russischen Staatssender Rossija nach der Entscheidung - Angst vor diesem zerbrechlichen Wesen im Rollstuhl mit dem fröhlichen Lachen. Hatte der ukrainische Geheimdienst das Einreiseverbot für die 27-jährige Sängerin nicht mit der nationalen Sicherheit begründet? Jossif Kobson, alternder Schlagerstar, Abgeordneter der Kreml-Partei Einiges Russland und wegen seiner Unterstützung für die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk auf der EU-Sanktionsliste, legte nach: "Wenn ihnen unser zauberhaftes Mädchen im Rollstuhl Angst gemacht hat, was werden sie erst sagen, wenn wir mit anderen Fahrzeugen kommen?", sagte er dem Sender. Eine unterschwellige Drohung - und eine Erinnerung daran, dass seit drei Jahren längst "andere Fahrzeuge" aus russischen Beständen in der Ostukraine im Einsatz sind.

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Die junge Sängerin selbst wirkt derweil glaubwürdig naiv: ein Mädchen, das wegen einer Knochenkrankheit seit Kindertagen im Rollstuhl sitzt und die Musik als Weg gefunden hat, um sich zu zeigen. Erst auf der Bühne im Haus der Pioniere ihrer Heimatstadt Uchta im russischen Norden, später in der Talentshow "Faktor A", die sie bekannt machte. Bei ihrem Auftritt zur Eröffnung der Paralympischen Spiele in Sotschi 2014 rannen ihr Tränen übers Gesicht. 2015 folgte dann jener verhängnisvolle Auftritt bei einem Musikfestival in Kertsch. "Ich habe nur gesungen, um Politik ging es dabei überhaupt nicht. Ich bin in Kertsch aufgetreten wie in jeder anderen Stadt", sagt Samoilowa jetzt. Seit ihrer Nominierung vor zehn Tagen wird sie durch die Talkshows gereicht, was einen guten Nebeneffekt hat: Das Leben von Behinderten ist auf einmal ein Thema.

Eine junge Frau, die eigentlich immer nur singen wollte, ist also zwischen die Fronten eines internationalen Konflikts geraten. Oder dorthin geschoben worden - denn als das russische Staatsfernsehen sie nominierte, war klar, dass sie vorher auf der Krim aufgetreten war, nachdem Russland ja eigentlich gar nicht teilnehmen wollte an dem Gesangswettbewerb in Kiew in diesem Jahr. Zumal dem eigenen Bewerber Sergej Lasarew nach russischer Lesart im vergangenen Jahr der Sieg gestohlen wurde: Er lag in der Zuschauerwertung vorn, bekam von der Jury aber so wenig Punkte, dass am Ende die Krimtatarin Jamala für die Ukraine siegte. Nun hat Kiew Moskau diese unangenehme Entscheidung zuverlässig abgenommen. Noch will Samoilowa nicht aufgeben. "Ich weiß nicht, das ist alles so lächerlich. Ich verstehe gar nicht, woher diese ganze Aufregung kommt", sagte sie am Mittwoch. Sie werde sich weiter vorbereiten. Wladimir Putins Sprecher Dmitrij Peskow äußerte am Donnerstag die Hoffnung, dass Kiew das Einreiseverbot noch einmal überdenke. Andernfalls werde dem ESC "beträchtlicher Schaden" zugefügt.

Die Ukraine will klarstellen, dass man die russischen Gebietsansprüche nicht anerkennt

Eben deshalb ist man in Kiew besonders empört, wo die Überzeugung herrscht, der Kreml habe Samoilowa nur ausgewählt, um zu provozieren. Ein Kolumnist schreibt in der Kyiv Post, Russland habe die Ukraine mit znyischem Kalkül unter Zugzwang gesetzt. Hätte Kiew einen Präzedenzfall geschaffen und sie einreisen lassen, hätte der Kreml das als Zeichen gewertet, dass die Ukraine Moskaus Gebietsansprüche stillschweigend anerkennt. Nun, da das Visum nicht erteilt wurde, stehe man als inhuman da. Mit Propaganda würden hier Emotionen geschürt. Der ESC ist also, wie schon so oft, zum Politikum geworden. Nur den Buchmachern ist das egal. Sie sehen Italien vor Schweden und Belgien. Russland und Ukraine spielen keine Rolle.

© SZ vom 24.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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