Demokratie:Übt Kritik - und Kritik der Kritik!

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Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo (l.) und Jürgen Trittin (Bündnis 90/Die Grünen) bei Anne Will. (Foto: dpa)

In Zeiten wie diesen fordern viele - etwa Giovanni di Lorenzo bei "Anne Will" - eine neue "Deutungsdemut". Was für ein Trugschluss.

Kommentar von Jens-Christian Rabe

Die politische Geschichte im Deutschland dieses Frühjahrs ist die Geschichte von Aufstieg und Fall des neuen SPD-Chefs und Kanzlerkandidaten Martin Schulz. Noch im März wollten die Deutschen laut Umfragen am liebsten Schulz als Kanzler. Im Februar lag er sogar elf Prozentpunkte vor Merkel. Nun, nach drei Landtagswahlen, die die SPD klar verlor, liegt er in den Umfragen ganze 17 hinter Angela Merkel, und ein Sieg der SPD bei den Bundestagswahlen erscheint wieder unwahrscheinlich.

Der Aufstieg und Fall von Martin Schulz ist aber natürlich nicht nur eine Geschichte aus der Politik, es ist auch eine Geschichte über gesellschaftliche Stimmungen in Deutschland - und ihre Deutung. Der Höhenflug des SPD-Chefs hatte schließlich schnell einen eigenen Namen, es war der "Schulz-Effekt". Eben dieser ist nun aber schon wieder "verpufft". So schnell kann es gehen.

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Und so schnell ging es auch, weshalb es auch eine Menge Beifall gab, als etwa Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo bei Anne Will in der ARD unnachahmlich bedächtig bemerkte: "Ich finde, die Dinge verändern sich so rasend schnell und wir lagen so oft falsch in den Vorhersagen, dass ich mir ein wenig Deutungsdemut wünschte." Und WDR-Fernsehdirektor Jörg Schönenborn, ein Veteran der schnellen, umfrageverliebten Wahlmoderation, war auch gleich ganz brav demütig: "Wir haben es mit ganz schnellen Konjunkturzyklen zu tun. Und manche von uns sollten mit dem, was sie schreiben oder senden, auch mal drauf gucken, wie schnell sich politische Stimmungen ändern können."

Mehr Demut wagen - ja, das klingt in Zeiten des Lügenpresse-Vorwurfs natürlich erst mal nachdenklich und reflektiert. Und ist doch genauso merkwürdig wie die vorgebliche Überraschung darüber, dass - huch! - alles so verflucht schnell geworden ist. Denn was heißt es eigentlich, demütig zu sein?

Das Wort hat seinen Ursprung im althochdeutschen "diomuoti", das so viel bedeutete wie "dienstwillig sein" oder die "Gesinnung eines Dienenden" zu haben. Populär wurde die Demut schließlich als religiöses Gebot, als Tugend, als eine Lebenshaltung der Ergebenheit und Einsicht in die Notwendigkeit des Bestehenden, besonders in die eigene Unvollkommenheit angesichts der Vollkommenheit Gottes. Der ergebene Knecht eines herrschenden Herrn sein zu müssen - genau zur Überwindung dieses Dienstverhältnisses wurde aber einmal die Demokratie erfunden, die bei allen anderen Gelegenheiten von denselben Klassensprechern gern zum Heilmittel schlechthin erklärt wird.

So wirkt es ein wenig faul und anmaßend zugleich, auf großer bürgerlicher Bühne zur Demut aufzurufen. Wie ein performativer Widerspruch, ein populistisch-liebedienerischer zumal. Nein, um etwas derartig verkappt Religiöses wie die prätentiöse Erinnerung an die Nichtigkeit des Einzelnen geht es gerade nicht beim Einschätzen der leider oft unübersichtlichen laufenden Ereignisse. Denen wird man im besten demokratischen Sinne viel eher gerecht, wenn man einfach so fleißig wie möglich versucht, ihnen in all ihrer Kompliziertheit und all ihrem natürlichen Wankelmut gerecht zu werden. Indem man bei den Sachen selbst bleibt und Kritik übt. Und Kritik der Kritik. Und, wenn es sein muss, auch noch Kritik der Kritik der Kritik. Denn wenn überhaupt, dann ist die Wahrheit oder wenigstens das, was nicht völlig falsch ist, nur so zu retten. Don't cry, work.

Zeiten wie diese brauchen (wie alle Zeiten) nicht mehr Deutungsdemut, sondern mehr Deutungsmut. Sie brauchen also nicht weniger, sondern mehr Deutungen. Und mehr Interpreten. Nur eben bitte solche, die nicht eitel auf die ewige Wahrheit schielen, sondern einfach frohen Mutes den klügstmöglichen Vorschlag zum Weiterreden und Weiterdenken machen.

© SZ vom 20.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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