Claude Chabrol:Der Blick des Bösen

Man kann die Gesellschaft auf zwei Weisen angehen: revolutionär und radikal. Oder durch Versuche, sie nicht zu ändern, sondern ihr zu zeigen, warum sie sich nicht ändert. So hat es Claude Chabrol gemacht. Jetzt starb er im Alter von 80 Jahren.

Fritz Göttler

Er hat eine der schönsten Abschiedsszenen der Kinogeschichte geschaffen, 1969, am Ende von "La femme infidèle/Die untreue Frau". Da wird der Mann, Michel Bouquet, von der Polizei verhaftet - er hat den Liebhaber seiner untreuen Frau umgebracht - und weggeführt, die Frau, Stéphane Audran, bleibt zurück vor dem Haus, die Kamera fährt von ihr weg und gleichzeitig versucht ein gegenläufiger Zoom die Distanz zwischen den beiden zu verhindern, die Entfernung, die Entfremdung, die Einsamkeit. Eine Geschichte hat ihr Ende gefunden, offiziell nach den Regeln der Gesellschaft, und doch bleibt alles in Bewegung. Das ist, für Claude Chabrol, der traurige Charme der Bourgeoisie.

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Claude Chabrol - der traurige Charme der Bourgeoisie zog ihn an.

(Foto: AFP)

Ein Kind von Traurigkeit aber ist er nie gewesen, der junge Claude ist, obgleich in Paris geboren, bei den Großeltern in einem Dorf im Limousin aufgewachsen, das hat ihm eine gewisse Bodenständigkeit bewahrt, eine enorme Sinnes- und Lebensfreude. Sein erster Spielfilm hat dann ebendort gespielt, "Le Beau Serge", 1958 gedreht mit einer Erbschaft seiner Frau, zum Start der Nouvelle Vague - bevor Jean-Luc Godard diese dann auf die Champs-Elysées verfrachtete mit Jean Seberg und Belmondo in "Außer Atem". Auch Chabrol ging für den zweiten Film nach Paris, "Les Cousins", für den er auf der Berlinale den Goldenen Bären bekam.

Chabrol war in den Jahren bei den Cahiers du Cinéma, als die Jungregisseure sich rüsteten für die Attacke aufs Kino der Väter, kein sehr fleißiger und profilierter Schreiber, dafür hat er später, im Filmbusiness eine bemerkenswerte Produktivität und Konsequenz entwickelt. Er war Mainstream, im besten Sinne, um den herum Godard oder Rivette ihre eigenbrödlerischen, esoterischen Bahnen zogen. Chabrol hat unter anderem Henry James und Cornell Woolrich verfilmt, Flaubert und Henry Miller, Ellery Queen und Patricia Highsmith, Fantômas und Simenon - man mag das als enorme Spannbreite sehen oder auch als eine gewisse Gleichgültigkeit. Persönliche Projekte gibt es selten, aber seine Neugier scheint unersättlich, sein Verlangen, merkwürdige Personen in merkwürdige Umgebungen zu setzen und zu gucken, was sie dort dann treiben werden. Der Entomologenblick, die Perspektive des insektenforschenden Kindes.

Intrige, Dekadenz, Geilheit

Das Bürgertum war seine Lieblingsdomäne, und daran hat sich nichts verändert in den fünfzig Jahren, die Bourgeoisie natürlich, wo das Geld ist und die Macht, mit ihren Intrigen, ihrer Dekadenz, ihrer Geilheit. Mehr noch aber jener Mittelstand, der schon immer die ganze Last der bürgerlichen Gesellschaft schultern muss. Der an den fremdbestimmten oder selbstgesetzten Wünschen und Ansprüchen, an dem Bild, das er sich von sich selber macht, sich abarbeitet, bis das Selbstbewusstsein bröckelt und er mit Obsessionen und Pathologien knallhart bestraft wird. Es sind die Blicke allein, die in diesen Filmen verunsichern und strafen, die der Kamera zumal, wenn sie unerbittlich ihre Objekte fixieren. Soziologischer Voyeurismus, so cool und klinisch inszeniert wie Luhmann seine Texte fabrizierte. Natürlich gibt es Racheaktionen dagegen, kleine Eruptionen von Gewalt: "Das Biest muss sterben" heißt einer der frühen Filme, ein Vater rächt den Tod seines Sohnes.

Chabrol hat nie als Sprachrohr der Nouvelle Vague gewirkt, aber in ihm ist die Vorstellung von der starken Autorenpolitik, wie sie die Gruppe entwickelt hatte, am schönsten sichtbar geworden - dass man den neuen auteur eines Films nicht mit einer Persönlichkeit verwechseln darf, die in den Filmen sich zum Ausdruck bringen will. Dass die Wirklichkeit den auteur dominiert, und die Eigenmächtigkeit der Kamera. Es ging Chabrol um Kontinuität, die des Arbeitens und die der Beobachtung, wie seinerzeit bei den alten Serials, mit ihren unendlichen Geschichten, vom aktuellen Geschehen immer aufs Neue gesättigt. Er drehte gern on location, in schönen Landhäusern und Appartements. Hat auch die Herausforderung einer Massenszene nicht gescheut: "Ich musste schnell drehen, an einem Tag. Ich hatte 200.000 Leute auf dem Set zusammen. Mehr als Ben Hur." Das war bei "L'œil du malin / Das Auge des Bösen", den er 1961 in München drehte. Die besagte Szene spielte auf dem Oktoberfest.

Bloß kein falsches Mitleid

Das war nicht die alte Komposition im klassischen Sinn, die den Menschen einem Rahmen einfügt, einem Ganzen, einer Totalen. Chabrols Einstellungen waren offen und beweglich, aber nie sentimental oder anbiedernd. Nichts wäre schrecklicher im Kino als falsches Mitleid, das hat er von seinem Meister und Freund Simenon gelernt, mit dem er sich lange ausgetauscht hat über die Technik der Menschenbeobachtung. "Betty", nach einem Roman von Simenon, Marie Trintignant als schmuddelige schikanierte Alkoholikerin, das ist einer der ganz dunklen, traurigen, heiteren, unantastbaren Filme Chabrols.

Nicht politische Filme machen, hat Godard einst gefordert, sondern Filme politisch machen. Chabrol ist bei den politischen Filmen geblieben. Man kann die Gesellschaft nur auf zwei Weisen angehen, hat er gesagt, entweder revolutionär und radikal, oder, wie ich das mache, durch Versuche, nicht die Welt zu verändern, sondern zu zeigen, warum sie sich nicht ändert. Einer der letzten dieser Versuche war "Geheime Staatsaffären/L'ivresse du pouvoir", über die Elf-Aquitaine-Schmiergeldaffäre, wo Isabelle Huppert - die zwei haben viele Filme miteinander gemacht, einer böser als der andere - als Staatsanwältin mitten im Stress plötzlich sich als Hexe geriert. Womöglich hätte ihn eine Figur wie Thilo Sarrazin mächtig interessiert, ein kleiner Entomologenbürokrat, von seinen eigenen Visionen aus dem Tritt gebracht.

In seinem letzten Film, "Bellamy", den er 2009 auf der Berlinale vorstellte - er bekam dort auch einen Goldenen Ehrenbären -, hat er es endlich geschafft und Depardieu vor seine Kamera bekommen. Er ist, obwohl im sonnigen Nîmes gedreht, eingestandenermaßen ein halbes Selbstporträt geworden, voll von Abstürzen, Todesahnungen, Selbstmordvisionen. Am Sonntagmorgen ist Claude Chabrol im Alter von achtzig Jahren in Paris gestorben.

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