Belletristik:Weiße Hände, dunkle Zeit

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Aus Natascha Wodins Privatarchiv: der Bruder der Mutter zusammen mit Cousinen am Ufer des Dnjepr im Jahr 1927. Der Geburtsname der Mutter, Jewgenia Jakowlewna Iwaschtschenko, eröffnete im Archiv den Blick auf das vorrevolutionäre Leben ihrer wohlhabenden Herkunftsfamilie. (Foto: Privatarchiv Natascha Wodin)

In ihrem Roman "Sie kam aus Mariupol" erkundet Natascha Wodin die Herkunftswelt ihrer Mutter. Sie steht damit zu Recht auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse.

Von Hans-Peter Kunisch

Die Geschichte von der "Gläsernen Stadt", in der "die Häuser, die Möbel, die Straßen, selbst die Schuhe an den Füßen der Bewohner" aus Glas sind, wirkt in der ärmlich-dreckigen Nachkriegswelt der fränkischen Provinz, in der Natascha Wodins Ich-Erzählerin aufwächst, wie ein Märchen vom anderen Stern. Im weniger richtigen Leben wohnt das 1945 geborene Mädchen, dessen Mutter von der Stadt aus Glas erzählt, im Schuppen einer Eisenfabrik, dann in den verwanzten Baracken von Valka, einem berüchtigten Nürnberger Lager für Displaced Persons. Selbst das Haus am Rand von Forchheim, in das die Tochter ukrainischer Zwangsarbeiter mit den Eltern zieht, wird nie sauber. Der Vater, der sich als Hühnerzüchter versucht, kommt betrunken und gewaltlüstern nach Hause, ist mit seiner Frau und ihren "kleinen weißen Händen" nie zufrieden.

"Die gläserne Stadt" war im Jahr 1983 Natascha Wodins Erzähldebüt. In ihrem neuen Roman "Sie kam aus Mariupol", der auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises steht, kehrt diese Geschichte als Chiffre des Geheimnisses wieder, von dem das Leben der Mutter umgeben ist. Nahezu unverstellt geht Wodin diesem Geheimnis nach. Irgendwann tippt sie den Namen ins russische Internet. Schon seit Langem will sie, die nach katholischem Mädchenheim, Obdachlosigkeit, Telefonistinnen- und Stenotypistinnendasein schließlich Russisch-Dolmetscherin und Schriftstellerin wurde, ein Buch über diese Frau schreiben, die sie kaum kennt.

Im Internet trifft Natascha Wodin auf einen ukrainischen Genealogie-Freak, der ihr hilft

Denn die Mutter ging aus ihrer elenden Nachkriegsexistenz in den Fluss, die Regnitz, als die Tochter zehn Jahre alt war. Schon vorher war das Leben Nataschas nicht leicht. Den Kindern von Nazis und Mitläufern gefällt es, das Russenmädchen zu jagen. Sie rennt, lügt sich eine fürstliche Herkunft herbei, wird der giftigen, diebischen Göre ähnlich, die man ihr auf den Leib dichtet. Auch die Mutter hält sie für das Böse selbst. Einmal versucht die Tochter auf dilettantische Weise, sie mit Nadeln im Bett umzubringen.

Jahrzehnte nach dieser dunklen Kindheit entdeckt die fast siebzigjährige Tochter, dass die Stadt Mariupol, die sie sich eiskalt und lebensfeindlich vorgestellt hatte, im Süden der Ukraine liegt, am Asowschen Meer, mit Sommertemperaturen bis zu vierzig Grad. Natascha muss ihr Mutterbild revidieren, an die Stelle von Mantel und Eis treten Meer und Sandalen.

Aber die Suche hat erst begonnen. Im Internet trifft Natascha Wodin auf Konstantin, einen ukrainischen Genealogie-Freak, der in Russland wohnt und ihre fiebrige Suche unterstützt. Die geisterhafte Beziehung zu Konstantin trägt den ersten Teil des Buchs. Das Hin und Her im Internet, dessen erotisches Potenzial für Betagte, die ungesehen bleiben wollen, schon in Natascha Wodins Roman "Alter, fremdes Land" eine wichtige Rolle spielte, kommt hier etwas redselig daher. Richtig in Fahrt kommt "Mariupol" erst, als die Erzählerin im Netz auf Lidia stößt, die Schwester der Mutter, und auf deren Tochter und Enkel. Der Enkel erzählt von seiner eigenen kleinen Familie, und dass er seine Mutter umgebracht habe, wegen einer psychischen Störung aber als nicht schuldfähig gelte.

Das Entsetzen über die virtuelle Begegnung mit dem friedlichen Monster ist der eigentliche emotionale Auftakt des Buchs. Wodins Angst und Abscheu treten vielleicht auch deshalb so markant hervor, weil sie als Kind selber ihre Mutter umbringen wollte. Und sie lässt sich die zwei Hefte mit dem Lebensbericht schicken, die Lidia hinterlassen und ein Cousin gefunden hat. Dieser Lebensbericht wird zum Höhepunkt des Romans.

Und das, obwohl er zunächst einen schroffen Stilbruch bedeutet. Nach alltagssprachlichem Geplauder zu Beginn des Buchs, einem schwelgerisch-poetischen Versinken in einem Recherche-Sommer am mecklenburgischen Schaalsee und dramaturgisch inszenierten Tagen vor dem Computer folgt nun ein radikaler Sprung in die Geschichte der eigenen Familie und der Ukraine. Man erfährt vom Leben im ursprünglich griechischen Mariupol, wird in die Russische Revolution versetzt. Wodin bearbeitet, verkürzt die Vorlage, wählt einen dürren, nahezu dokumentarischen Stil, und rasch wird klar, warum. So viel an familiengeschichtlichen Erinnerungen wie an politischen Ereignissen kommt hier zusammen, dass jedes poetische Aufblähen des Stoffes gefährlich gewesen wäre.

Irgendwo in ihren Kindheitserinnerungen hat Natascha Wodin das Detail aufbewahrt, ein Vorfahre der Mutter sei Italiener gewesen. Jetzt erfährt sie, dass die Urgroßeltern De Martinos hießen, über den damals florierenden Kohlehandel zu den reichsten Kaufleuten der Stadt gehörten und in einem fürstlichen Haus lebten, das auch die Eltern der Mutter aufnahm. Der Vater, ein verarmter Rechtsanwalt, der auf der Seite der Bolschewiken stand, wurde von den Schwiegereltern verachtet, obwohl auch sie begriffen, dass die Zeit der Zaren zu Ende ging.

Die Figur von Wodins Mutter, das erklärte ursprüngliche Ziel der Recherche, tritt im Laufe des Buches zurück. Von der neun Jahre älteren Schwester wird sie kaum erwähnt, in dieser tritt eine neue Erzählerin in den Vordergrund und wird zur Hauptfigur. Die neue Erzählstimme ist markant genug, um diese Verschiebung und den damit verbundenen Stilwechsel nicht als störend erscheinen zu lassen. Durch die Perspektive der 1911 geborenen Schwester treten die vorrevolutionären Verhältnisse im Haus anschaulich hervor. Wodins Mutter, Jahrgang 1920, hat diese Pracht nie erlebt. Ihr Leben begann im Chaos und fand nicht mehr heraus. Nur ihre weißen Hände, die nicht Socken stopfen konnten, verweisen noch auf die vorrevolutionäre Welt. Sie konnte noch studieren und fand eine Anstellung beim deutschen "Arbeitsamt", der Vermittlungsstelle für Zwangsarbeiter.

Mit nicht geringem Pathos versetzt sich Wodin in den Alltag dieser "Sklaven unserer Kultur", wie Himmler sie nannte. Ob aber die deutsche Existenz der Eltern eine Folge von "Verschleppung" war? Auch der Vater, der seine erste, jüdische Frau auf der Höhe der Verfolgungen verließ, hat eine zwiespältige Geschichte, die ihm unter russischer Besatzung nicht bekommen wäre. Natascha Wodin ist auf beider Seite, sie beurteilt die Eltern nicht. Ihr ist ein so klassisches wie außergewöhnliches Buch gelungen. Geradlinigkeit wird darin weder stilistisch noch thematisch angestrebt. Und man kann hier gut auf sie verzichten.

© SZ vom 16.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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