Mikrokosmos Internat:Drill hinter dicken Mauern

Sexueller Missbrauch und Gewaltexzesse an Eliteschulen schrecken Eltern auf. Sind Internate der perfekte Tatort? Der enge Zirkel von Lehrern und Schülern birgt immer Gefahren.

Maria Holzmüller

Das Internat - eine elitäre Schuleinrichtung für die adrett uniformierten Sprösslinge der Oberschicht. So stellen sich Schüler die Privateinrichtungen seit Generationen vor. Die Wenigsten waren je persönlich dort, näher als durch das Lesen leichtfüssiger Jugendbücher wie Hanni und Nanni oder Die Fünf Freunde kamen sie der geheimnisvollen Schulform in der Regel nicht. Was sich hinter den dicken Internatsmauern abspielt - die große Masse der Schüler an konventionellen staatlichen Schulen kann es nur erahnen.

Der Skandal weitet sich aus

Dass jetzt immer neue Missbrauchsfälle in privaten Internaten an die Öffentlichkeit dringen, rückt den Fokus der Aufmerksamkeit wieder einmal auf den engen Zirkel von Lehrern und Schülern. Waren es zu Beginn ausschließlich katholische Einrichtungen, die ins Visier der Ermittler gerieten, weitet sich der Missbrauchsskandal inzwischen immer weiter aus. Von 1970 bis 1985 sollen beispielsweise an der renommierten Odenwaldschule für Reformpädagogik in Hessen Schüler vom Schulleiter und mindestens drei Lehrern missbraucht worden sein.

Unabhängig von der Konfession stellt sich die Frage, ob es der "Mikrokosmos Internat" ist, der den Missbrauch untergebener Schüler begünstigt. Ein Schulsystem, lange Zeit getragen von der Tradition, steht auf dem Prüfstand. Das empfindet auch Detlef Kulessa, der Geschäftsführer der Internatsberatung "Töchter und Söhne" so. Etwa 20 Prozent der anrufenden Eltern beziehen sich im Gespräch mit ihm mittlerweile auf die Missbrauchsfälle in den Internaten Odenwald, St. Blasien oder bei den Regensburger Domspatzen. "Die häufigste Frage ist natürlich 'Wie kann ich mein Kind schützen?'", sagt er.

Zeit für das Inoffizielle

Auch wenn die Fälle, die derzeit die Medien beschäftigen, verhältnismäßig lange zurücklägen, habe niemand die Gewissheit, dass ähnliche Vorkommnisse heute unmöglich seien. Kulessa rät den besorgten Eltern vor allem eines: "Nehmen Sie sich bei Besuchen des Internats Zeit für den inoffiziellen Teil. Sprechen Sie mit Schülern, ohne dass ein Schulsprecher oder eine Aufsichtsperson anwesend ist. Erst in solchen Gesprächen entwickelt man ein Gespür für die Situation und die Stimmung im Internat." Jenseits aller verblümter Schulleiterrhetorik.

Normalerweise rufen bei "Töchter und Söhne" vor allem Eltern an, die ihre Kinder in ein Internat schicken wollen, und nicht wissen, welches das beste für ihren Nachwuchs ist. Die Nachfrage und das Interesse an Privatschulen und Internaten im In- und Ausland ist in den letzten Jahren anhaltend gestiegen. Angesichts ernüchternder Pisa-Ergebnisse staatlicher Schulen, Lehrermangels und überfüllter Klassen geben Eltern gerne Geld aus, um ihren Kinder die bestmögliche Bildung zu gewährleisten. Und die erwarten sich viele noch immer von Einrichtungen, in denen die Kinder 24 Stunden am Tag unter Aufsicht sind.

Erfolgsrezept Struktur

"Die meisten Eltern erhoffen sich, dass das Internat den Kindern eine feste Struktur vorgibt. Etwas das ihnen selbst nicht gelingt. Kinder sollen mit Konsequenz ihren Leistungserfolg steigern. Dabei geht es nicht nur um die Lernstrukturen, sondern auch um die Freizeitplanung und das soziale Gefüge. Im Internat sollen die Jugendlichen ihren Platz in der Gesellschaft finden, die richtigen Leute kennenlernen und dabei zu verantwortungsvollen Erwachsenen erzogen werden", sagt Kulessa. Erfolgreiche Absolventen scheinen das Gelingen des Konzepts zu bestätigen. Grünen-Politiker Daniel Cohn-Bendit war ebenso Schüler der Odenwaldschule wie die Moderatorin und Buchautorin Amelie Fried, der ehemalige CDU-Vorsitzende Rainer Barzel ist Absolvent des Canisius-Kollegs in Berlin.

Mit entsprechend hohen Erwartungen wenden sich Eltern auch an Marie-Theres Pütz-Böckem von der Internatsberatung des Verbands Katholischer Internate und Tagesinternate. "Die Kinder sollen in der Gemeinschaft ihre Leistung verbessern. Manchmal geht es auch darum, sie aus einem schlechten Umfeld zu entfernen oder sie gezielter zu fördern", sagt sie. Vom Erfolg der Internate ist sie überzeugt. Besorgte Anrufe wegen der steigenden Zahl an Missbrauchsfällen hat Pütz-Böckem noch nicht erhalten. Der Verband Katholischer Internate will dem schon auf seiner Internetseite entgegenwirken.

Druck und Geheimhaltung

In einer "Erklärung zu Missbrauchsfällen an Kindern und Jugendlichen" heißt es da: "Sie stehen deutlich im Gegensatz zu unserem Leitbild und unserem pädagogischen Konzept, da sie das Vertrauen der Kinder und Jugendlichen missbrauchen und sie nicht fördern und bilden, sondern zutiefst verletzen und traumatisieren. [...] Gerade in unseren Internaten und Tagesinternaten, in denen in einer engen und vertrauten Lebensgemeinschaft gelebt und gearbeitet wird, ist ein verantwortlicher Umgang mit Nähe und Distanz von hoher Bedeutung."

Schüler sind abhängig

Dass die Schulform des Internats trotz derartig deutlicher Worte mit einem Imageverlust zu kämpfen haben wird, davon ist Kulessa überzeugt. Auch dass es einen Zusammenhang zwischen der Struktur eines Internats und den Missbrauchsfällen geben könnte, weist er nicht von der Hand. "Die Nähe und das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Schülern und Lehrern in einem Internat kann diese Gefahr immer bergen." Wichtig sei deshalb vor allem das Vertrauensverhältnis zwischen Eltern und Kindern, damit diese von etwaigen Vorkommnissen zu Hause auch berichten.

Professor Günther Deegener forscht seit Jahren zu sexuellem Missbrauch von Kindern. Dass es in Internaten in der Vergangenheit verstärkt zu Missbrauchsfällen kam, überrascht ihn nicht. Dass es in deutschen Internaten in den fünfziger bis siebziger Jahren zu Gewalt kam, sei schon länger bekannt."Institutionen, in denen Druck und Geheimhaltung eine Rolle spielen, bieten den Rahmen für Missbrauch. Gerade dort sind die Kinder angewiesen auf Zuwendung und Geborgenheit, das nutzen die Täter aus" sagt er.

Die Mauern des Schweigens sind in der geschlossenen Gesellschaft eines elitären Internats besonders hoch. "Innerhalb einer solchen Institution ist das Schweigen möglicherweise noch größer, als in anderen Fällen von sexuellem Missbrauch", sagt Psychologe Deegener. Was hinter den Mauern passiert, soll dort auch bleiben. Dazu trägt möglicherweise auch das Zugehörigkeitsgefühl der einzelnen Schüler bei. Wer einmal zur Internatsfamilie gehört, bleibt ihr ein Leben lang verbunden. Dementsprechend natürlich erscheint es auch, dass sich unlängst zahlreiche ehemalige Schüler unterstützend hinter die Klosterschule Ettal stellten.

Angekratzter elitärer Schein

Der elitäre Schein von Internaten scheint dennoch angekratzt. Die Internatsberatung "Töchter und Söhne" will ihr Portfolio nach den jüngsten Enthüllungen bereinigen. Dass es bei den derzeit bekannten Fällen bleiben wird, glaubt Kulessa nicht. "Ich befürchte, da wird noch einiges nachkommen", sagt er. Um erneut das Vertrauen und die einstige Noblesse wiederzuerlangen, müssen die Internate seiner Meinung nach verstärkt Vertrauensarbeit leisten. "Sie müssen offen mit den Fällen umgehen und verschiedene Kontrollstufen in ihr System einbauen. Ein Kind darf nicht mehr nur in Abhängigikeit von einer Aufsichtsperson stehen, es sollte immer eine zweite Vertrauensperson geben, die angesprochen werden kann."

Angesichts der aktuellen Diskussionen um Internate betont Psychologe Deegener jedoch, dass die derzeit diskutierten Fälle von Gewalt alle in der Vergangenheit lägen, eine generelle Vorverurteilung von Internaten lehnt er ab: "Ich würde heute in keinster Weise vor Internaten warnen." Ob die Institutionen, einst umweht von einem Hauch geheimnisvoller Noblesse, den Ruch des Unheimlichen wieder abschütteln können, muss sich erst zeigen. Ein paar dicke Mauern müssen dafür wohl noch eingerissen werden.

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