Ingenieure mit Bachelor:"Wir sind halt die Versuchskaninchen"

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Technik-Fächer waren auch vor der Bologna-Reform verschult - dennoch bedeutet der Bachelor für die Studenten eine Zäsur. Mit zweifelhaften Folgen.

Johann Osel

Wenn an Wochenenden bei Familie Rödl in Dingolfing die beiden Söhne zu Besuch sind, prallen die Systeme unverhohlen aufeinander. Dann kann es sein, dass Vater Josef Rödl, Wirtschaftsingenieur im Ruhestand, von seinen Kindern Sebastian und Matthias wissen will, wie es im Maschinenbaustudium an der TU München so läuft. Und dann erzählen die beiden: Matthias Rödl, 24, der im neunten Semester im Endspurt seines Studiums steckt und mit dem Titel des Diplom-Ingenieurs bald zu den gefragtesten Absolventen auf dem Arbeitsmarkt gehören wird; und sein Bruder Sebastian, 21, der vor drei Semestern als Bachelor-Student angefangen hat und sagt: "Wir sind halt die Versuchskaninchen." Zwei Brüder, zwei Studienmodelle. Und auch zwei Perspektiven?

Der Stoff im Maschinenbaustudium ist auch nach der Umstellung auf den Bachelor nahezu derselbe geblieben. Geändert hat sich trotzdem einiges. (Foto: Foto: dpa)

Was taugt der neue Abschluss?

Vor zehn Jahren haben Europas Kultusminister den "Bologna-Prozess" begonnen, seitdem tauschen die deutschen Hochschulen die alten Abschlüsse Diplom und Magister gegen Bachelor und Master aus. Sukzessive ist dies seither erfolgt - von der breiten Öffentlichkeit wenig bemerkt. Durch die Studentenproteste der vergangenen Wochen ist der Bachelor nun schlagartig zum Streitthema geworden, ja zu einem Politikum.

Der ursprünglich üppige Forderungskatalog der Demonstranten, in dem es auch ums Geld ging, um ein Ende der chronischen Unterfinanzierung an vielen Hochschulen, hat sich zu einer Systemfrage zugespitzt: Was taugt der neue Abschluss? Kritiker nennen den Bachelor einen "zertifizierten Studienabbruch", sprechen gar von "halbakademischem Proletariat". Technik-Fächer sind dabei ein besonderer Fall: Einerseits waren sie auch schon vor Bologna verschult, andererseits wird mit dem Diplom-Ingenieur ein deutscher Exportschlager abgeschafft.

Im Großen und Ganze dasselbe

Durch die Reform, so lautet ein Vorwurf, sei das alte Studienprogramm nur in den kürzeren, meist sechssemestrigen Bachelor hinüberverfrachtet worden. Tatsächlich findet sich fast alles, was Diplom-Student Matthias bisher absolviert hat, auch in Sebastians Stundenplan. Maschinenzeichnen, mit das aufwendigste Unterfangen im ganzen Studiengang, nimmt im alten Modell drei Übungsveranstaltungen in Anspruch - im neuen ebenfalls. Auch bei höherer Mathematik oder Thermodynamik stellen die Brüder fest: Der Stoff ist im Großen und Ganzen derselbe geblieben.

Und trotzdem sagt Matthias zu seinem jüngeren Bruder, dessen Bachelor sei gerade einmal "ein bisschen mehr als sein Vordiplom". Denn Thermodynamik und dergleichen sind die Grundlagen im Maschinenbau. Nur ein einziges Semester steht beim Bachelor zur Spezialisierung bereit, beim Diplom praktisch das gesamte Hauptstudium. "Aber genau darauf legen die Firmen Wert. Wer braucht bitte einen Grundlagenkenner?", sagt Sebastian.

Gleich in die Industrie

Natürlich könnte es reizvoll sein, nach dem Bachelor "gleich in die Industrie zu gehen" und den Master vielleicht später zu machen. Doch dass er in gut zwei Jahren als Bachelor-Maschinenbauer tatsächlich einen Job bekommt, bezweifelt er: "Wir werden auf diesen Erst-Abschluss hingetrimmt, offen bleibt, ob man damit was anfangen kann."

Von einem "Abschluss zweiter Klasse" möchte Willi Fuchs nicht sprechen, verweist aber - mittlerweile ein geflügeltes Wort - auf "handwerkliche Fehler" bei der Bologna-Umsetzung. Fuchs ist Chef des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI), auch seine Kinder studieren Maschinenbau und Mechatronik, beide auf Bachelor. "Oft gibt es alten Wein in neuen Schläuchen", sagt er, manche Rektoren hätten sich "nach preußischer Genauigkeit" nur mit Paragraphen, nicht mit der praktischen Studienstruktur befasst. Im Diplom seien 60 Prozent technische und naturwissenschaftliche Grundlagen - das Bachelorstudium könne dies nicht verkraften, mehr Praxis sei nötig.

Das Können ist wichtiger als der Abschluss

Gleichwohl verweist Fuchs auf eine VDI-Studie, wonach neun von zehn Firmen weniger auf den Titel eines Absolventen als auf das Können achten. Jedoch sind Bachelor meist in der Fertigung oder in marktnahen Bereichen wie dem Vertrieb beschäftigt - kaum im Kernbereich Forschung und Entwicklung.

Der angehende Diplom-Ingenieur Matthias Rödl glaubt schon, dass es Vorbehalte geben wird: Wenn jemand nur einen Bachelor und keinen Master habe, stelle sich die Frage nach dem Warum - ob er vielleicht zu wenig begabt oder gar zu faul sei. Doch von Faulheit kann mit Blick auf das Bachelor-Pensum keine Rede sein: Mindestens fünf Tests pro Semester stehen bei Sebastian durch das kleinteilige Prüfungssystem an, in diesem Semester sind es sieben. Jedes zergliederte "Modul" wird geprüft, alles fließt durch ein Punktesystem (Credits) in die Note mit ein. Galt beim Diplom noch die Devise "Vier gewinnt", also ein "ausreichendes Bestehen" für die Fortsetzung des Studiums, kann nun jede Nachlässigkeit den Schnitt versauen.

Passgenaue Prüfungen

Viele Bachelor-Studenten gehen nur noch zu Lehrveranstaltungen, die passgenau auf die Prüfung zugeschnitten sind und sich in bare Münze, sprich: in Punkte, umwandeln lassen, sagt Sebastian. "Man hat immer die Credits im Kopf, das ist schon ein unglaublicher Druck." Der Druck besteht auch darin, nach sechs Semestern oder maximal nach acht "nicht alles in der Tasche zu haben". Dass angesichts dieses Fahrplans ein Auslandssemester schwierig ist, liegt auf der Hand. Eigentlich hätte der Bologna-Prozess die Mobilität der Studenten fördern sollen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wohin sich viele Studenten flüchten.

Doch Sebastian ist keiner von den laut Studentenwerken Tausenden, die sich wegen der Bachelor-Last in psychologische Beratungsstellen flüchten. Der bodenständige Niederbayer macht eher den Eindruck, dass er weiß, in harten Zeiten umso härter ranklotzen zu müssen. Die Ingenieure haben sich damit abgefunden, dass sie "ein wahnsinnig stressiges Studium" haben, sagt er. Doch bekommt er natürlich mit, wie in seinem Jahrgang "ausgesiebt" wird, vielmehr als im Diplom.

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Selektierender Durchlauferhitzer

Jürgen Hesselbach, Präsident der TU Braunschweig, hat kürzlich für das Fach Maschinenbau Alarm geschlagen: "Es darf nicht sein, dass 40 Prozent eines Jahrgangs nach dem zweiten Semester nicht mehr dabei sind, weil sie das Handtuch geschmissen haben oder weil sie nicht auf die erforderliche Punktzahl kommen." Ist dieses System Bachelor tatsächlich ein selektierender Durchlauferhitzer?

"Nicht für den Elfenbeinturm bilden wir aus, sondern für ein Berufsleben", hat der Präsident der TU München, Wolfgang Herrmann, unlängst in einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung geschrieben. An seiner Uni will Herrmann - "egal ob es ihn in irgendeinem Gesetz gibt oder nicht" - den Diplom-Ingenieur auch weiterhin an Master-Absolventen verleihen: "Er gehört zu unserem Markensortiment."

Deutsche Ingenieure sollen Marktführer bleiben

VDI-Chef Fuchs glaubt, dass deutsche Ingenieure auch mit den neuen Abschlüssen international "Marktführer" bleiben. "Aber vielleicht wird es sich in der Tat zeigen, dass der Uni-Bachelor nur der gängige Zwischenschritt auf dem Weg zum Master wird", sagt er. Daher sei eine Quotierung von Master-Plätzen irrsinnig. Der freie Zugang zum Master ist eine Kernforderung bei den Studentenprotesten.

An den Aktionen haben sich die Brüder aus Dingolfing nicht beteiligt. Wie auch? Kein einziges Flugblatt sei ihm auf dem Campus vor den Toren Münchens untergekommen, sagt Matthias, von Hörsaalbesetzungen ganz zu schweigen. Generell zeigten sich Technik-Studenten bei den bundesweiten Protesten eher zurückhaltend: Die Fachschaft Chemie der Universität Würzburg etwa verkündete: "Es ist nicht alles Gold, was glänzt, aber so schlecht ist es auch wieder nicht." Und ein Karlsruher Student spottet in einem Blog: "Auf den Demos hängen nur Geisteswissenschaftler rum. Da pushen wieder einige ihr unausgefülltes Leben, wir Naturwissenschaftler hätten gar nicht die Zeit dafür."

Verständnis für die Geisteswissenschaftler

Für den Unmut in den Geistes- und Sozialwissenschaften hat Bachelor-Student Sebastian aber durchaus Verständnis: "So etwas zu verschulen ist nicht sinnvoll, da leidet die Kreativität." Fast hätte es ihn ja auch in diese Richtung verschlagen, Kunst und Mathe waren im Gymnasium seine Leistungskurse, das Technik-Interesse hatte schließlich obsiegt. Industriedesign als Schwerpunkt könnte später einmal die Lösung sein, sagt er. Später - sofern er als Versuchskaninchen bestanden hat.

© SZ vom 07.12.2009/holz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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