AOK Fehlzeitenreport:Ein Hoch auf den Exzess

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Viele Azubis verbringen einen Großteil ihrer Freizeit an der Bar. Gesund ist das nicht, aber auch nicht verwerflich. (Foto: iStockphoto)

Mit der Disziplin der jungen Arbeitnehmer steht es nicht zum Besten, sagt eine Studie. Entgegen der landläufigen Meinung ist das ein ziemlich gutes Zeichen.

Von Angelika Slavik

Deutschland liebt Leistung. Anerkennung und Sympathie sind in der Bundesrepublik eng mit Fleiß und Erfolg verknüpft, vielleicht enger als in den meisten anderen Ländern. Diese Grundhaltung hat maßgeblich zu Deutschlands wirtschaftlicher Stärke beigetragen. Das aber könnte sich ändern, wenn man einer Studie glaubt, die in dieser Woche veröffentlicht wurde. Darin wird die Leistungsfähigkeit von Berufsanfängern und jungen Arbeitnehmern untersucht.

Der schludrige Lebenswandel der Jungen

Das Zeugnis für diese Generation fällt schlecht aus: Die Krankenstandstage der Jungen liegen nur geringfügig unter jenen der Älteren, dazu klagen sie über allerlei Beschwerden. Schuld daran sei aber nicht die Überforderung durch die Arbeit, sondern ihr schludriger Lebenswandel: Viele treiben so gut wie keinen Sport, schlafen zu wenig, rauchen, trinken und ernähren sich hauptsächlich von Fast Food. Zwölf Prozent gaben sogar an, so gut wie nie ausgeruht an ihrem Arbeitsplatz zu erscheinen. Kurz: Deutschlands Jugend hat einen kollektiven Kater.

Tatsächlich stellt sich da die Frage, wie viel Selbstoptimierung man heute von Arbeitnehmern erwarten darf. Sind Menschen verpflichtet, Körper und Geist stets in Form zu halten, um ihren Arbeitgeber mit größtmöglicher Produktivität voranzubringen? Schließlich giert die Volkswirtschaft nach fitten, leistungsfähigen Arbeitskräften - und wenn sie die bekommt, profitieren dann nicht alle?

Auszubildende
:Jung, dynamisch, ausgebrannt

Ein Drittel der Auszubildenden in Deutschland klagt über körperliche und psychische Probleme, die Fehlzeiten in den Betrieben steigen. Was sind die Gründe?

Sehr viele Menschen sehen das so. Sie finden, dass ein Leben, das sich an dem orientiert, was allgemein als vernünftig gilt, für alle erstrebenswert ist. Und dass die, die es anders machen, dringend auf den Pfad von Fleiß und Tugend zurückgeschubst werden müssen. Deshalb haben viele Schritte, die in den vergangenen Jahren von Staat oder EU gesetzt worden sind und die das Ziel haben, den Konsum von Alkohol, Zigaretten, Zucker und sonst wie Verwerflichem zu reduzieren, bei großen Teilen der Bevölkerung Zustimmung gefunden.

Wer in vorgegebenen Grenzen lebt, denkt auch in vorgegebenen Grenzen

Diese Betrachtungsweise lässt allerdings außer Acht lässt, dass zur Freiheit des Einzelnen auch das Recht auf dumme Entscheidungen gehört. Natürlich ist es vernünftiger, abends brav sein Gemüse zu essen und früh zu Bett zu gehen, statt sich bis vier Uhr morgens die Nacht um die Ohren zu schlagen.

Die meisten der in der Studie erwähnten jungen Menschen werden in den nächsten Jahren ohnehin auf diesen Kurs der Mehrheit umschwenken, schon deshalb, weil ein exzessives Leben ziemlich anstrengend ist. Weil sie keine Lust darauf haben, sich von ihren ausgeschlafenen Kollegen in Karrierefragen abhängen zu lassen. Weil es nervig ist, immer dicker zu werden und beim Treppensteigen schon im Hochparterre nach Luft schnappen zu müssen. Sie werden also joggen, schlafen und Gemüse essen, vielleicht sogar noch disziplinierter als die Generation vor ihnen. Sie werden das Land voranbringen.

Trotzdem braucht eine Gesellschaft auch die, die nach anderen Maßgaben leben. Nicht nur, um ein Mindestmaß an Vielfalt zu erhalten, auch die Wirtschaft braucht die Unangepassten. Denn es ist doch so: Wer immer in vorgegebenen Grenzen lebt, wird auch in vorgegebenen Grenzen denken.

Wirtschaft aber benötigt nicht nur Pflichterfüllung, sondern auch Kreativität, unkonventionelle Ideen, Innovation. Wenn Menschen Grenzen testen, und seien es nur ihre eigenen körperlichen, ist das nicht der Untergang der Welt. Vielleicht bringen sie nach einer langen Nacht in der Kneipe eine Idee mit, die die Welt verändert. Vielleicht auch nur einen Kater, der sie die Beförderung kostet. Beides muss der disziplinierte Teil der Welt aushalten können.

© SZ vom 12.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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