Tinnitus:Presslufthammer im Ohr

Tinnitus: Was hilft wirklich gegen Tinnitus? Viele Ärzte behandeln falsch.

Was hilft wirklich gegen Tinnitus? Viele Ärzte behandeln falsch.

(Foto: Regina Schmeken)

Zu den Belastungen, die den Tinnitus auslösen, kommt der Stress durch irrige Erklärungen und falsche Behandlungen. Dabei gibt es Therapien, die gegen Ohrgeräusche helfen.

Von Werner Bartens

Bei manchen ist es ein Klingeln. Andere hören ein Pfeifen oder Klicken. Tiefere Töne sind nicht so häufig, kommen aber auch vor. Insofern ist es durchaus passend, wenn im Gespräch mit einem Tinnitus-Experten plötzlich ein lauter Pfeifton zu hören ist. Die alte Dampflokomotive fährt als Touristenattraktion durch Prien am Chiemsee und stößt regelmäßig gellende Laute aus. "Das Schlimmste ist, wenn Tinnitus-Patienten hören: Pech gehabt, Sie haben nichts, wir finden nichts, da kann man nichts machen", sagt Ulrich Stattrop, Oberarzt für Psychosomatik in der Klinik Roseneck in Prien. "Das ist falsch und außerdem entmutigend für die Patienten."

Den Dauergeräuschen ist gemeinsam, dass sie Millionen Menschen zermürben - für Außenstehende jedoch nicht wahrzunehmen sind. Je nach Erhebung leiden zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung an Tinnitus, von denen sich wiederum 20 Prozent stark beeinträchtigt fühlen. Eine wirksame und vor allem langfristig erfolgreiche Behandlung gegen den lästigen Ton im Ohr ist mühsam zu finden. Organische Ursachen, die das Dauergeräusch hinreichend erklären würden, werden nur in den seltensten Fällen entdeckt.

Wie also umgehen mit den Kranken, die oftmals eine jahrelange Odyssee durch Praxen und Kliniken hinter sich haben? Wichtig sei es, über die vielen Mythen aufzuklären, die es zu der Erkrankung gibt, sagt Stattrop. So sei Tinnitus weder ein Vorbote schlimmer Erkrankungen noch vergleichbar mit einem "kleinen Schlaganfall". Und Therapiemöglichkeiten gibt es durchaus.

Bis Linderung einsetzt oder es gar zur Heilung kommt, müssen die Betroffenen allerdings viel Geduld aufbringen. Im Verlauf von zehn Jahren verliert immerhin ein Viertel der Patienten komplett ihr Ohrgeräusch. Die übrigen drei Viertel gewöhnen sich entweder daran oder erfahren zumindest Milderung. Zwischen zwölf und 25 Prozent aller Tinnitus-Geplagten geht es hingegen gleichbleibend mäßig oder ihr Zustand verschlechtert sich sogar.

Bewährt hat sich die kognitive Verhaltenstherapie. In Gruppensitzungen geht es darum, die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als den nervenden Ton zu lenken und - Achtung: Modewort - mehr Achtsamkeit aufzubringen. In Prien werden Patienten an den Chiemsee geschickt und sollen sich dort fragen: Was höre ich, was sehe ich, was spüre ich. Auch der Versuch, das Geräusch anders zu bewerten, kann hilfreich sein. Haben Patienten zuvor den Eindruck gehabt, sie hätten ständig das Geräusch eines Presslufthammers oder einer Eisenbahn im Ohr, können sie sich selbst zu positiveren Assoziationen verhelfen. "Das kann ein Gebirgsbach sein, an den man denkt - oder wenn schon die Bahn, dann wenigstens mit den Annehmlichkeiten der ersten Klasse", sagt Stattrop.

Etliche Ärzte traktieren die Patienten mit Infusionen - obwohl nicht bewiesen ist, dass das hilft

Die Ohrgeräusche bei Tinnitus können ausgelöst werden durch Lärmschäden, Hörstürze oder sich schleichend entwickelnde Hörstörungen. Oft sind sie allerdings Folge von zu vielen Belastungen. Im gesunden Zustand ist das Gehirn in der Lage, Störgeräusche zu ignorieren und im Wortsinne zu überhören. So hören Menschen nicht ständig ihren eigenen Herzschlag oder Blutfluss. Bei Schlafmangel, chronischem Stress oder Depressionen verliert der Körper jedoch die Fähigkeit, die lästigen Umgebungslaute wegzufiltern.

Manchmal ist Tinnitus für die Patienten deshalb das erste Symptom einer psychischen Krise. Bei 90 Prozent der schwer von Tinnitus betroffenen Patienten liegt eine psychische Begleiterkrankung vor, zumeist eine Angststörung oder eine Depression. "Das ist ein Teufelskreis, wenn depressive Patienten gerade die Aktivitäten vermeiden, die Spaß machen und bei denen sie nicht mehr die Aufmerksamkeit auf den Tinnitus richten würden", sagt Stattrop. "Hier muss man versuchen, die Patienten wieder zu bestimmten Tätigkeiten zu aktivieren." Manchmal können in solchen Fällen Antidepressiva helfen. Ansonsten droht das größte Risiko bei gleichbleibend schwerem Tinnitus: eine dauerhafte Hörminderung.

Nach psychosomatischer Lesart wird Tinnitus weniger körperlich, sondern vor allem verhaltenstherapeutisch behandelt. Es geht darum, belastende Faktoren im Alltag zu verringern und Auslöser zu erkennen und zu vermeiden. Patienten sollten versuchen, sich an den Dauerton zu gewöhnen - in der Hoffnung, es irgendwann nicht mehr als störend oder vielleicht gar nicht mehr zu empfinden.

Auch wenn gute Kliniken und Ärzte auf die gleichermaßen körperliche wie seelische Betreuung ihrer Patienten setzen, zeigen die vielfältigen Therapieversuche der jüngsten Vergangenheit, wie schwer der Erkrankung beizukommen ist - und welche medizinischen Moden die Betroffenen schon über sich ergehen lassen mussten.

Etliche Ärzte sehen die Ursache für Tinnitus in einer Mangeldurchblutung des Innenohrs und traktieren die Patienten daher mit Infusionen, wahlweise angereichert mit durchblutungsfördernden Mitteln. In Studien konnte bisher nicht belegt werden, dass die Volumengabe die Beschwerden der Patienten lindert. Ähnlich populär ist die Vermutung, eine chronische Entzündung würde die Symptome hervorrufen. Kortison-Präparate und andere abschwellende Medikamente werden daher noch immer verordnet, auch wenn hier ebenfalls der Beleg dafür fehlt, dass die Behandlung bei einem chronischen Leiden wirksam ist.

In der akuten Phase, zu Beginn der Erkrankung, kann Kortison hingegen durchaus hilfreich sein. Pflanzenpräparate sind zwar bei vielen Patienten beliebt, besonders Ginkgo-Extrakte, doch ihr Nutzen ist ebenso wenig bewiesen wie der von Zink, Vitaminen oder Melatonin. In Leitlinien zur Therapie von Tinnitus wird dies ausdrücklich betont - wie auch der Hinweis, dass die Injektion der genannten Präparate ins Trommelfell nichts nutzt, sondern eher schadet.

Versuche mit Magnetstimulation

Neurologen vermuten, dass eine gestörte Nervenfunktion die neuronale Aktivität in den bei Tinnitus-Patienten veränderten Hirnarealen beeinflusst. Forscher der Universität Oregon haben kürzlich im Fachmagazin JAMA Otolaryngology Head and Neck Surgery (online) berichtet, dass Patienten mithilfe elektromagnetischer Pulse geholfen werden konnte.

Das Team um Hörforscher Robert Folmer hatte 70 Patienten in zwei Gruppen eingeteilt, die entweder an zehn aufeinanderfolgenden Arbeitstagen 2000 elektromagnetische Pulse pro Sitzung durch die Schädeldecke bekamen - oder eine zeitlich genauso umfangreiche Placebotherapie. Bei der Scheinbehandlung wurde eine identisch aussehende Spule verwendet. Linderung trat innerhalb der ersten Woche ein. Auf einer Skala der subjektiven Einschränkungen gaben die Teilnehmer an, dass sich ihr Befinden um 30 Prozent verbessert hatte, die Linderung nach der Placebobehandlung betrug nur sieben Prozent.

"Die Magnetstimulation kann nicht die herkömmlichen Tinnitus-Strategien ersetzen", sagt Robert Folmer, der weiß, dass seine vergleichsweise kleine Untersuchung erst noch in größerem Umfang bestätigt werden muss. "Aber als Ergänzung für Patienten, bei denen die anderen Behandlungsformen nicht anschlagen, ist das vermutlich eine gute Option."

In Leitlinien wird an der Magnetstimulation kritisiert, dass sie nur so lange wirkt, wie die Pulse in den Schädel gelangen - und der Effekt bald danach wieder nachlässt. "Man muss Geduld haben und sehen, was bei wem erfolgreich ist", sagt Ulrich Stattrop. "Manchen unserer Patienten hilft beispielsweise Musik. Die Geräusche von außen verdecken den Dauerton und der Leidensdruck wird geringer." Vielleicht trägt ja auch der Pfeifton der Lokomotive in Prien dazu bei, dass es einigen Patienten nach dem Besuch am Chiemsee etwas besser geht.

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