Zeitangaben für Texte:Wie der Mensch in digitalen Zeiten liest

Jesse England e-book backup

Ob gedruckt oder digital: Am schönsten ist Lesen, wenn man sich verliert.

(Foto: Jesse England)
  • Immer mehr Webseiten geben über ihren Texten die voraussichtliche Lesedauer an.
  • Befürworter argumentieren, Nutzer würden sich eher zum Lesen entscheiden, wenn der Zeitaufwand von vorneherein klar wäre.
  • Gelingendes Lesen sollte aber immer zeitlos sein.

Von Johan Schloemann

Drei Minuten für Robert Silvers. Das muss drin sein. In dieser Woche ist der legendäre Herausgeber und Redakteur der New York Review of Books gestorben. Diese wunderbare amerikanische Zeitschrift druckt ellenlange Rezensions- und Politik-Essays. Durch Silvers wurde sie so etwas wie die Göttingischen Gelehrten Anzeigen für linksliberale Intellektuelle und Kosmopoliten auf der ganzen Welt.

"Lesedauer: 3 Minuten" stand nun in der Online-Ausgabe über dem informativen Nachruf auf Robert Silvers, den die Tageszeitung Die Welt brachte. Ich habe es mit Stoppuhr getestet: Bei normalem, ungehetztem Lesen am Bildschirm brauchte ich für den Artikel 2 Minuten, 5 Sekunden und 17 Hundertstel.

Das ist jetzt gar keine besondere Leistung, sondern wohl ganz normal für jemanden, der beruflich immer viel zu lesen hat, oft unter Zeitdruck. Und ich hätte auch ebenso gut viel länger als die vorgegebenen drei Minuten brauchen können, wenn ich an einer bestimmten Stelle, wo der Artikel eine ganze Reihe von Namen aufzählt, hängengeblieben wäre - es sind berühmte Autoren der NYRB, von denen jeder einzelne, wenn man innehält, in eine eigene Welt führt: "Susan Sontag, Ian Buruma, Isaiah Berlin, W. H. Auden, Norman Mailer, Zadie Smith, John Updike, Harold Bloom, Joyce Carol Oates, Joan Didion, Tony Judt, Vladimir Nabokov"...

Auch in der analogen Welt gab es schon Experimente mit Zeitangaben

Die Angabe der wahrscheinlichen Lesezeit greift gerade um sich im Netz. Betreiber von Internetseiten können dafür auf automatische Tools zurückgreifen, die mit ihren Inhalten verknüpft werden und von einem durchschnittlichen Lektüretempo zwischen 150 und 250 WPM ausgehen. Das heißt: Wörtern pro Minute. Wir bekommen ja auch angezeigt, dass der Bus voraussichtlich in 7 Minuten kommen wird, ebenso die erwartete Dauer von Wanderrouten, Theateraufführungen und Autofahrten mit Navigationsgerät, und exakte Angaben zur Dauer von Videos, Podcasts und Filmen ohnehin. Warum nicht auch präzise Informationen zum nötigen Opfer von Lesezeit im Aufmerksamkeitsgewitter?

Vereinzelt gab es solche Angaben bereits in der analogen Welt, etwa in Magazinen wie Liberty und europäischen Ausgaben von Vanity Fair. In der Begrifflichkeit der Literaturwissenschaft handelt es sich um einen "Paratext", der einen Haupttext begleitet und seine Rezeption steuert, so wie immer schon Titel, Inhaltsverzeichnisse, Zwischentitel und Ähnliches. Aber richtig Fahrt auf nahm die "Estimated reading time" natürlich im mobilen Internet.

Auf den Bildschirmen sieht man Texten nicht an, wie lange man herunterscrollen oder -wischen muss, und so kam neben dem ungenaueren Schiebe-Balken auf der rechten Seite (auch Bildlaufleiste genannt) die Zeitangabe auf. Zuerst war sie beliebt bei den Schatzsuchern von lesenswerten, besonders langen Essays und Magazinreportagen wie Longform oder Longreads.

Wenn dort das Porträt eines mexikanischen Killers aus dem Harper's Magazine von geschätzten 35 Minuten Lesezeit empfohlen wird, dann ist das ein bewusstes Gegenprogramm zur sekündlichen digitalen Ablenkung, eine Idee, der sich auch das Magazin SZ Langstrecke mit seinen Online-Empfehlungen verpflichtet fühlt.

Das Minutenzählen dehnt sich auf ganze Bücher aus

Längst werden aber auch viel kürzere Lektüren quantifiziert, auch auf Nachrichten-Websites. Datensammelnde Lesegeräte und Tablets erfassen zudem, wie oft man "umblättert", und rechnen hoch, wie lang der restliche Text noch ist, nicht nur in Prozent, auch in Zeit. So dehnt sich das Minutenzählen auf ganze Bücher aus.

Auf der Seite howlongtoreadthis.com kann man ermitteln, à propos "Vanity Fair", dass man mit dem Roman von William Thackeray ("Jahrmarkt der Eitelkeit") 12 Stunden 55 Minuten beschäftigt wäre. "Ein wenig Leben" von Hanya Yanagihara, eines der Bücher dieses Frühjahrs, verlangt 11:47 Stunden, Christian Krachts "Imperium" in der englischen Übersetzung nur 2:43. Alles natürlich Nettozeiten, ohne Schlaf und Toilettenpausen! Es gibt auch diverse Tests des eigenen Lesetempos.

Die Psychologie kennt Pro- und Kontra-Argumente für die Angabe der Lesedauer

In der Industrie der Aufmerksamkeitshändler, die die Leute auf ihren Seiten und Apps halten und eine hohe Abspringerquote ("Bounce-Rate") verhindern wollen, wird über den Sinn der Minutenangaben nachgedacht. Auf der Website von Abakus, einer Agentur für Suchmaschinen-Optimierung, heißt es etwa: "Die Begründung (...) aus verhaltenspsychologischer Sicht klingt ebenso simpel wie einleuchtend, je mehr wir über etwas wissen, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns für etwas entscheiden. Wird also die Lesedauer mit angegeben, steigt nach dieser Theorie die Wahrscheinlichkeit, dass der ganze Artikel gelesen wird."

Gegenargumente kommen ebenfalls aus der Logik der Konsum-Psychologie: Laut einer Studie der Washington University in St. Louis, die im Journal of Marketing Research erschienen ist, werden kulturelle Freizeitaktivitäten "signifikant weniger genossen", wenn sie mit festen Terminen verbunden sind und sich dadurch wie Arbeit anfühlen.

Selbst auf Websites mit anspruchsvollen Inhalten gibt es Videos

Hier stellt sich also die Frage, was wir eigentlich aus Pflicht, was aus Lust oder Interesse lesen. Und was für den einen Leser (und Adressaten von Werbung) machbar und verlockend klingt - nur neun Minuten, so ein spannendes Thema! -, das kann für andere schon wieder eine abschreckende Ewigkeit sein.

So schwierig es ist, den Medienwandel der Gegenwart genau fassen zu kriegen, er hat, so scheint es, ein neues Stadium erreicht. Vor fünf bis zehn Jahren hieß es in manchen Analysen: Allen alten Prophezeiungen einer audio-visuellen Zukunft zum Trotz feiere die Schriftlichkeit ungeahnte Triumphe; es werde mehr geschrieben, getippt, gechattet und publiziert denn je. Das stimmt auch sicher noch, und doch hat die Konkurrenz heute andere Dimensionen angenommen. Selbst auf Websites mit anspruchsvollen Inhalten kann man sich stundenlang Videos ansehen (und Freunde raten einem auch ständig, das unbedingt zu tun), viele Filmchen starten von selbst, Facebook und Twitter bieten Live-Videos.

Einerseits "Slow Reading", andererseits Schnelllese-Kurse

Die Einführung von "Facebook Live" im vergangenen Jahr begründete der Konzern mit der neurologisch und erzähltheoretisch gewagten These, dass Amateurvideos "uns helfen, mehr Information zu verarbeiten" und "die beste Art, Geschichten zu erzählen" seien. Die Bildermassen sind mit Whatsapp, Snapchat, Instagram noch uferloser geworden, während die Audio-Sprachsteuerung immer wichtiger wird.

Das zugleich sehr beharrliche Bedürfnis nach neuen Texten reagiert darauf in zwei Richtungen. Einerseits gibt es eine hipsterige "Slow Reading"-Bewegung, eine Sehnsucht nach Aussteigertum und Versenkung sowie eine auffällige Menge an maßlos dicken Büchern, welche die Autoren ihrerseits immer öfter in asketischen Auszeiten außerhalb des Alltags produzieren. Die Maria-Theresia-Biografie von Barbara Stollberg-Rilinger, die gerade den Preis der Leipziger Buchmesse bekam, hat 1083 Seiten.

Das eigene Lesetempo variiert stark

Aber man übt sich auch in Beschleunigungstechniken: Schulungen im Speed-Reading oder auch Lese-Innovationen, die Einzelwörter hintereinander aufscheinen lassen, etwa die App "A Faster Reader", die mit der Anpreisung wirbt: "Lies Text so, als würdest du ein Video anschauen!"

In dieser Lage sollen offenbar auch die Angaben der Lesedauer helfen. Aber jeder weiß eigentlich, wie verschieden das Tempo je nach Leser, Textsorte, Stil und Stimmung sein kann. Die Leseforschung rechnet mit vielerlei Zugängen, Abschweifungen und Mischungsverhältnissen von Lese- und Lebenszeit.

Heißt "13 Minuten", dass ich danach eine lästige Aufgabe erfolgreich absolviert habe? Und wenn so ein individueller Bereich zählbar gemacht werden soll - wie viel Lesezeit habe ich denn dann überhaupt am Tag, im Jahr, im Leben?

Gelingendes Lesen - nicht nur von Büchern, sondern auch von klugen Aufsätzen oder Reportagen - hebt vor allem immer zeitweise das Zeitgefühl auf. So schrieb Wolfgang Iser in seiner klassischen Studie "Der Akt des Lesens" von 1976: "Gegenwärtigkeit heißt Herausgehobensein aus der Zeit; die Vergangenheit ist ohne Einfluss, und die Zukunft bleibt unvordenklich. (...) Man muss sich vergessen, um dem Geforderten gewachsen zu sein. Daraus entspringt dann der Eindruck, dass man in der Lektüre eine Verwandlung erlebt."

Die Zeit ist um.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: