Soziales Start-up:Junge Talente integrieren

Kiron Open Higher Education hilft Flüchtlingen, die studieren wollen.

Der 22-jährige, mit dem man über Skype in ein WG-Zimmer nach Leipzig verbunden ist, erzählt eine Geschichte, wie sie viele erlebt haben: Hoffnungsfroh mit dem Studium begonnen, durch Krieg oder Konflikt herausgerissen, auf die Reise gemacht. Um dann, irgendwo in Deutschland, einen Neuanfang zu wagen. Drei Semester hat Loai A., der lieber nicht mit seinem vollen Namen in der Zeitung stehen möchte, in Damaskus studiert. Im Herbst 2015 floh er nach Deutschland; bald begann er, hiesige Universitäten abzuklappern. "Überall sagten sie, ich müsse erst einmal Deutsch lernen", erzählt er. Und auch seine Unterlagen zu prüfen, das werde dauern, habe man ihm mitgeteilt.

Der Wirtschaftsstudent, der fließend Englisch und inzwischen auch gut Deutsch spricht, wandte sich an einen Anbieter, der Menschen weitgehend ohne Ansicht der Papiere registriert: das 2015 zunächst unter dem Namen Wings University gegründete soziale Start-up Kiron Open Higher Education. Sitz der gemeinnützigen GmbH ist Berlin. "Die Anmeldung dauerte nicht länger als einen Facebook-Account einzurichten", erzählt Loai A., "binnen Minuten war ich wieder Student." Inzwischen hat er eine Reihe von Online-Kurse nebst Prüfungen absolviert - an der RWTH Aachen zum Beispiel, aber auch an US-amerikanischen Universitäten.

Das Projekt hat etliche Förderer, von Stiftungen bis hin zum Bundesbildungsministerium

Das ist das Prinzip von Kiron: Geflüchtete Studierende unbürokratisch zu registrieren und ihnen den Zugang zu Massive Open Online Courses (Moocs) zu ermöglichen - Gebühren fallen hierfür in der Regel keine an. Nach zwei Kursjahren sollen die Online-Examina von deutschen Hochschulen anerkannt werden, sodass die Teilnehmer an der jeweiligen Hochschule ein Regelstudium absolvieren können. In einem Fall ist das bereits vor Ablauf der zwei Jahre geglückt: Ein Politikstudent aus Syrien wurde zum Sommersemester an dem privaten Bard College in Berlin aufgenommen. Insgesamt gibt es 25 deutsche Partner-Hochschulen; 42 Hochschulen weltweit bieten in Kooperation mit Kiron Open Higher Education Online-Kurse an.

Soziales Start-up: Begabte Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, sollen schneller Zugang zu Hochschulen finden, so die Idee der Gründer von Kiron Open Higher Education.

Begabte Menschen, die ihre Heimat verlassen mussten, sollen schneller Zugang zu Hochschulen finden, so die Idee der Gründer von Kiron Open Higher Education.

(Foto: Westend61/mauritius images)

Wer fliehen müsse, sei "oft für Jahre auf Stand-by, was den Aufenthalt und was die Ausbildung angeht", erklärt Markus Kreßler, Mitbegründer des Start-ups. "Für die Menschen ist das unbefriedigend - und es ist vergeudetes Talent". Dieser Idee sei man gefolgt - und dabei auch "bei Hochschulen auf große Offenheit gestoßen". Nicht nur bei ihnen: Bei einer ersten Crowdfunding-Kampagne kam mehr als eine halbe Million Euro an Spenden zusammen. Bis heute folgten die in Lörrach (Baden-Württemberg) ansässige Schöpflin-Stiftung und weitere Stiftungen, eine Reihe von Unternehmen, das Bundesbildungsministerium (BMBF) sowie die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als Unterstützer.

Geschaffen wurde damit eine Struktur, welche die Fernstudenten aus ganz verschiedenen Ländern und mit ganz verschiedenen Hintergründen nicht unbegleitet an ihren Smartphones oder Tablets sitzen lässt: Von einer telefonischen Hotline über Online-Mentoren bis zu Buddys, die Menschen wie Loai A. am jeweiligen Ort unterstützen. Weitere Wege der nicht-virtuellen Begegnung wurden geschaffen - "Study Weekends" zum Beispiel, bei denen sich Kiron-Studenten im nicht-virtuellen Raum treffen. "Wir haben festgestellt, dass es Bedarf gibt, sich auch persönlich zu begegnen", erklärt Ronny Röwert, der bei Kiron die Hochschulkontakte betreut.

Bildung für alle

Mooc steht für Massive Open Online Course. Für gewöhnlich stehen Moocs auf - bisher meist US-amerikanischen - Plattformen gebündelt zur Verfügung. Eine der größten dieser Plattformen heißt "EDX". Sie wurde von der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) gegründet. Seit einigen Wochen ist Kiron Higher Open Education dort nach der TU München und der RWTH Aachen der dritte deutsche Partner. Unter dem Label "Kiron X" wollen die Macher des Start-ups künftig auch eigene Moocs entwickeln und dort online stellen. Jeanette Goddar

Der größte Verdienst ist aber wohl, die Kompatibilität zwischen weltweiten Online-Kursen und deutschen Studienordnungen hergestellt zu haben. Für bisher fünf "Study Tracks" - BWL, Informatik, Ingenieur-, Sozial- und Politikwissenschaften - wurden aus Mooc-Inhalten Module erstellt, die deutschen Curricula entsprechen. Innerhalb dieser Fächer können sich Studierende mithilfe eines Online-Navigators orientieren und sich zudem in Foren zu offenen Fragen austauschen.

Aber sind die weltweit gelernten Mooc-Inhalte mit den Anforderungen hiesiger Hochschulen vergleichbar? "Größtenteils ja", sagt Linda Wulff, Online-Koordinatorin an der Fachhochschule Lübeck. Getestet wurde das im März bei einem "Kompetenzfeststellungswochenende" mit Freiwilligen in Berlin. Dort stellten sich Kiron-Studierende im Fach Informatik in Anwesenheit von Professoren echten deutschen Hochschulprüfungen. Das Wochenende war Teil eines vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts, das die FH Lübeck, die RWTH Aachen und Kiron vereint. Unter dem Titel "Integral 2 - Integration und Teilhabe von Geflüchteten im Rahmen von digitalen Lehr- und Lernszenarien" und ausgestattet mit circa zwei Millionen Euro wird, außer an Kompetenztests, an geeigneten digitalen Vorbereitungs-, Sprachkurs- oder Mentoring-Angeboten gearbeitet. Was dabei herauskommt, hofft man im BMBF, könnte auch bei der Vorbereitung internationaler Studierender Modell stehen. Die Ergebnisse hätten das Potenzial, "Pilotprojekt für die Ansprache Studieninteressierter aus dem Ausland insgesamt zu sein", erklärte Cornelia Quennet-Thielen, Staatssekretärin im BMBF, zum Auftakt im Jahr 2016.

Der Ehrgeiz der Gründer geht noch weiter. "Wenn es gelingt, anerkannte Standards für digitales Studieren zu setzen, wird das das Lernen weltweit revolutionieren," sagt Kreßler. Das würde bedeuten, dass für die Aufnahme eines Studiums weder ein bestimmter Wohnort noch eine Immatrikulation nötig sind - jeder könnte jederzeit und überall mit dem Lernen starten und erbrachte Leistungen zu einem späteren Zeitpunkt sich anrechnen lassen.

Bereits heute verteilen sich die 70 Kiron-Mitarbeiter auf Büros in drei "Fokusländern"; außer Deutschland sind das Frankreich und Jordanien. In Jordanien wird dieses Jahr erstmals eine dreimonatige "Blended Learning Summer School" angeboten. Kooperationspartner ist die GIZ, die bereits seit Jahren in den Flüchtlingscamps Jordaniens tätig ist. Das Programm richtet sich vor allem an syrische Flüchtlinge. Wenn es gelingt, sie unter den widrigen Bedingungen in völlig überfüllten Lagern an das Lernen anzukoppeln, gilt auch dort: Für so manchen würde eine ganz neue Perspektive geschaffen.

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