Wildtiere in Bayern:Zahl der Unfälle steigt drastisch

Rehkitz

Viel Nachwuchs in Bayerns Wäldern: Forscher schätzen, dass die Rehpopulation in den vergangenen Jahren um 25 Prozent angestiegen ist.

(Foto: dpa)
  • Die Polizei in Bayern nimmt inzwischen gut 63 000 Wildunfälle im Jahr auf, das sind 15 000 oder fast ein Viertel mehr als vor zehn Jahren.
  • Ein oder zwei Menschen sterben im Freistaat pro Jahr bei Wildunfällen, 500 bis 600 werden verletzt. Die Sachschäden gehen in die Millionen.

Von Christian Sebald

Ein Samstagabend nahe dem oberbayerischen Traunstein. Ein 30-jähriger Siegsdorfer ist mit seinem Kleinwagen auf einer Staatsstraße unterwegs nach Hause. Plötzlich läuft von rechts ein Reh auf die Fahrbahn. Beim Zusammenprall wird das Tier über die Motorhaube geschleudert, der Kadaver durchschlägt die Windschutzscheibe, bleibt auf dem Beifahrersitz liegen. Der Siegsdorfer hat ein Riesenglück. Er ist unverletzt. Sein Auto allerdings ist demoliert. Der Kleinwagen muss abgeschleppt werden, es ist fraglich, ob sich eine Reparatur noch lohnt.

Die Polizei in Bayern nimmt inzwischen gut 63 000 Wildunfälle im Jahr auf, das sind 15 000 oder fast ein Viertel mehr als vor zehn Jahren. Wenigstens ein oder zwei Menschen sterben im Freistaat pro Jahr bei Wildunfällen, 500 bis 600 werden verletzt. Die Sachschäden gehen in die Millionen. Ungefähr 38 000 der aufgenommenen Wildunfälle - das sind deutlich mehr als die Hälfte - sind Zusammenstöße mit Rehen. Ihre Zahl ist binnen Zehnjahresfrist ebenfalls um etwa 25 Prozent angestiegen.

So viele Rehe wie seit langem nicht mehr

Für den Forstwissenschaftler und Privatdozenten für terrestrische Ökologie an der Technischen Universität München, Jörg Müller, ist die immense Zahl der Rehwild-Unfälle der Belegt dafür, dass in Bayerns Wäldern so viele Rehe leben wie seit langem nicht mehr. "Wir dürften so viele Rehe haben wie zuletzt vor 150 Jahren", sagt Müller, der zu den renommiertesten Forstwissenschaftlern im Freistaat zählt. "Auf ganz Bayern gesehen ist die Rehpopulation binnen zehn Jahren sicher um durchschnittlich 25 Prozent angestiegen." Und so wie es aussieht, wird sie in den nächsten Jahren weiter zunehmen.

Müllers Einschätzungen sind erstaunlich. Lautet doch das Credo aller Jäger und Förster, dass man Rehe nicht zählen kann. Der eine Grund: Die Individuen ähneln sich viel zu sehr, als dass selbst sehr versierte Jäger eines vom anderen unterscheiden könnten. Der andere: Rehe leben meist so versteckt, dass man sie kaum zu Gesicht bekommt. Deshalb werden die Bestände seit jeher stark unterschätzt. Das haben Experimente gezeigt. Auf der dänischen Insel Kalø schossen in den 1950er Jahren Jäger einmal alle Rehe ab, die dort lebten. Am Ende betrug die Strecke 213 Stück. Vermutet hatten die Schützen auf der Insel allenfalls um die 70 Rehe. Das ist der Grund, warum sich Müller natürlich ebenfalls hütet, die Rehbestände in einzelnen Regionen Bayerns oder gar im ganzen Freistaat in absoluten Zahlen abzuschätzen.

Zahl der Wildunfälle ist stark angestiegen

Wie aber kommt der Wissenschaftler dann zu dem Urteil, dass die Zahl der Rehe binnen zehn Jahren um wenigstens 25 Prozent zugenommen hat? Zumal er beansprucht, die Aussage sei wissenschaftlich fundiert. Müller hat dafür zusammen mit Statistik-Professor Torsten Hothorn, der an der Uni Zürich lehrt, und anderen Wissenschaftlern 340 000 Wildunfälle zwischen 2002 und 2011 in Bayern ausgewertet. Parallel dazu haben die Forscher für den selben Zeitraum 850 000 Unfälle ohne Beteiligung von Wild analysiert.

Die beiden wichtigsten Ergebnisse ihrer Studie: Während die Zahl der Wildunfälle in den zehn Jahren stark angestiegen ist, ist die Zahl der Unfälle ohne Wild leicht gesunken. Außerdem hängt das Risiko, in einen Wildunfall verwickelt zu werden, von den Aktivitäten der Rehe ab. Beispielsweise ist es in der Brunftzeit besonders hoch. In Zeiten mit vielen gewöhnlichen Unfällen hingegen herrscht kein besonderes Wildunfall-Risiko. Daraus folgern Müller, Hothorn und ihre Kollegen, dass nur ein Anstieg der Rehpopulation in Bayern der Grund sein kann, warum immer mehr Wildunfälle passieren. Und nicht etwa der permanent zunehmende Verkehr oder das immer dichtere Straßennetz.

"Rehe sind extrem anpassungsfähig"

Der Wildbiologe Niels Hahn teilt die Einschätzung, dass in Bayern so viele Rehe leben wie lange nicht mehr. "Rehe sind extrem anpassungsfähig", sagt er, "sie fühlen sich in Stadtparks genauso wohl wie im Gebirge, auf Feldern und im dichten Wald." Außerdem profitierten sie davon, dass immer mehr Buchen und andere Laubbäume in den Wäldern wachsen. "Deren Triebe sind Leckerbissen für sie." Wie auch der Klimawandel den Tieren mehr nütze als schade. Und obwohl Rehe scheu sind, kommen sie in dicht besiedelten Gebieten gut zurecht. Der hohe Jagddruck spricht ebenfalls für eine sehr vitale Population. 2005 schossen die bayerischen Jäger 280 000 Rehe. 2010 waren es 310 000 - ohne dass man Auswirkungen gespürt hätte.

Auch der Präsident des Jagdverbands, Jürgen Vocke, sagt, dass es immer mehr Rehe gibt. Aber dies sei gewiss nicht der einzige Grund dafür, warum die Zahl der Wildunfälle ansteigt. Für Vocke spielen auch das immer dichtere Straßennetz, der immer stärkere Verkehr und der hohe Freizeitdruck auf die Wälder eine wichtige Rolle. Sein Fazit: "Unser Wild hat kaum noch Räume, in denen es Ruhe hat. Außerdem führt er die "Gedankenlosigkeit der Autofahrer" an. "Wenn da am Straßenrand ein Wild-Warnschild steht, registrieren das die meisten gar nicht, geschweige, dass einer das Tempo drosselt." Deshalb müsse man unbedingt bei den Autofahrern ansetzen. Im Herbst will Vocke mit dem ADAC eine neue Aufklärungskampagne starten.

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