Unsportliche Kinder:CSU will Trägheit mit "bewegtem Sitzen" bekämpfen

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Das neue Exotenfach an den Schulen heißt Sport. Komplexe Bewegungsabläufe beherrschen nur noch wenige Kinder. (Foto: Alessandra Schellnegger)

An Bayerns Schulen gibt es immer weniger Sportunterricht - mit Folgen für die Gesundheit. Die CSU sorgt mit ihrem Vorschlag für Verwunderung.

Von Anna Günther und Hans Kratzer, München

Der Abgeordnete Gerhard Waschler zieht seine Schultern hoch. Nicht zu einem Keine-Ahnung-Zucken, sondern so richtig bis zu den Ohren. Dann lässt er sie fallen. Und zieht sie wieder hoch. "Das ist bewegtes Sitzen", sagt Waschler (CSU). Wer in diesem Moment im Landtag sitzt, hebt mindestens eine Augenbraue. Martin Güll (SPD), der Vorsitzende des Bildungsausschusses, nickt energisch mit dem Kopf und sagt zu seinem Stellvertreter: "Die CSU könnte doch auch mal diese Bewegung machen." Schließlich hat die SPD mehrere Ideen in den Ausschuss gebracht, um den Sportunterricht in Bayern zu verbessern.

Um den ist es aus Sicht der Opposition miserabel bestellt. "Bayern war im Sportunterricht-Ranking der Kultusministerkonferenz einst an der Spitze der Bundesländer, jetzt ist der bayerische Schulsport nur noch auf dem Papier ein Erfolg", sagt Günther Felbinger (Freie Wähler), der auch im Landessportbeirat sitzt. Seit 1994 sei die Anzahl der Sportstunden stetig gesunken. Bei den Sportwettbewerben sei die Misere schon zu sehen. "Da reicht bewegtes Sitzen nicht aus", sagt Felbinger.

Weil die CSU das naturgemäß anders sieht, bleibt das von Güll gewünschte Kopfnicken aus - obwohl sich alle Politiker über die positiven Effekte von Sport für Konzentration und Gesundheit einig sind.

Kinder brauchen richtige Bewegung

Schulkinder könnten sich auch mit bewegtem Sitzen und Spielen in den Pausen lockern, sagt Waschler. Sport und Bewegung müssten nicht immer Teil des Stundenplans sein. Bis 2013 war er Leitender Akademischer Direktor am Sportzentrum der Uni Passau. Ob sich Erstklässler aber beim Schulterkreisen im Sitzen so austoben, dass sie sich wieder konzentrieren können, bezweifeln Sportlehrer. Problematisch werde es aber dann, wenn Bewegung in der Schule nur noch zwischendrin stattfindet.

Immer mehr Kinder verbringen einen Großteil ihrer Freizeit vor Bildschirmen. Den Rest des Tages sitzen sie in der Schule. Den zweistündigen Schulsport auch noch ausfallen zu lassen, ist bei vielen Schülern ein gängiger Brauch, bei Mädchen noch mehr als bei Buben. Der in der 5. Klasse noch vorhandene natürliche Bewegungsdrang lässt in der Pubertät auf einen Schlag nach. Dann musst du sie mit Gewalt raustreiben, sagen erfahrene Sportlehrer. Sie warnen seit langem, dass im Gesundheitswesen eine Zeitbombe ticke. In Bayern gelten bis zu 20 Prozent der Kinder als übergewichtig. Ärzte entdecken bei ihnen Stoffwechselstörungen, Haltungsschäden und erhöhten Blutdruck.

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Am besten täglich Sportunterricht

Um gegenzusteuern, müssten schon die Kleinsten täglich Sportunterricht haben, findet der Sportlehrerverband. "Die Hälfte der Grundschüler kann nicht mehr schwimmen, das ist eine dramatische Entwicklung", sagt Andrea Kaufmann, die Vizepräsidentin der bayerischen Sportlehrer. Zwei Stunden Sportunterricht pro Woche ist das im Lehrplan geforderte Minimum. Selbst diese Marke wird immer öfter unterschritten, weil Stunden ausfallen und Turnhallen belegt sind. Der Sportlehrerverband überlegt derzeit, welche Alternativen es im Freien geben könnte, auch im Winter. Kaufmann bestätigt überdies, dass die Toleranzgrenze für Befreiungen vom Sportunterricht gesunken ist. Mädchen nutzten das noch mehr aus als Buben. Manche haben dann plötzlich mehrmals im Monat Regelschmerzen - probieren kann man es ja mal.

Derzeit werden die Lehrpläne in Bayern überarbeitet, im Herbst 2018 sollen sie in Kraft treten. Wenn man Sport und Bewegung jetzt nicht stärker in der Bildung integriere, sei die Chance für viele Jahre vertan, sagt Kaufmann. "Wir im Landessportbeirat erwarten substanzielle Schritte, sonst kann man das Gremium abschaffen", sagt der SPD-Sportexperte Harald Güller und fordert, dass die Staatsregierung die dritte Sportstunde für alle Schularten und Altersklassen vorschreibt.

Bisher sind in der ersten Klasse zwei Stunden pro Woche vorgesehen, von der zweiten Klasse an sind es drei Stunden. An vielen Schulen wird diese Vorgabe wegen der fehlender Lehrer und Turnhallen jedoch nicht umgesetzt. Wenn man sich am Sportindex des Kultusministeriums orientiert, kamen die Mittelschulen in der 5. und 6. Klasse im vergangenen Schuljahr im Idealfall auf 2,91 Stunden Sport. Bei den älteren waren es 2,51 Stunden. Die Wirtschaftsschüler sind mit 2,09 Stunden Sport pro Woche weit abgeschlagen.

Wie es an Gymnasien und Realschulen aussieht, sei derzeit wegen einer Systemumstellung nicht zu erfassen, heißt es aus dem Kultusministerium. "Das ist eine glatte Lüge", sagt Felbinger. Er wisse aus verlässlicher Quelle, dass die Abfrage kein Problem sein dürfte. Die Zahlen seien schlicht zu schlecht, "aber, wenn das publik würde, wäre Feuer unterm Dach", sagt der Sportlehrer Felbinger. Wie viele Stunden ausfallen und warum, wird im Ministerium ebenfalls nicht registriert.

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Auch die Umsetzung von Bewegungsinitiativen wie "Voll in Form", die in der Grundschule an Tagen ohne Sportunterricht 20 Minuten Bewegung sichern sollen, müsste die Staatsregierung kontrollieren, sagt Harald Güller. Diese Initiative ist zwar in der Schulordnung verankert und die Schulleiter sind verantwortlich. "Aber die Realität ist, dass neben Sportunterricht nichts passiert." Die Qualität des Sportunterrichts bereitet Güller ebenfalls Sorgen. Im vergangenen Schuljahr gab es nur 79 Sportfachlehrer für 2400 Grundschulen in Bayern. "Auf Dauer ist das ein Problem", sagt Güller, der für jede Grundschule mindestens einen Sportlehrer fordert.

Das Ministerium müsse mehr Fachpädagogen einstellen und Schulungen für die anderen Grundschullehrer bieten, die zwar Sport unterrichten dürfen, aber nur sehr wenig Praxiserfahrung aus dem Studium mitbringen. Anders als bei weiterführenden Schulen spezialisieren Grundschulpädagogen sich auf ein Fach und kombinieren es mit drei Didaktikfächern - darunter auch Sport, Musik oder Kunst.

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Doch auch die Ausbildung der Sportlehrer für weiterführende Schulen hat in den letzten Jahren gelitten, beklagt Andrea Kaufmann vom Sportlehrerverband. Die Praxiskurse im Studium wurden abgespeckt zugunsten der wissenschaftlichen Ausbildung. "Dabei sollte man doch vor allem die Sportarten gut beherrschen, wenn man Bewegung vermitteln will", sagt sie.

Die Staatsregierung müsse langfristig mehr Stellen für Sportlehrer schaffen, fordert die Opposition. Felbinger wirft Waschler "Schaufensterreden" vor, gerade weil dieser an der Passauer Uni selbst Sportlehrer ausgebildet habe, müsste er die Misere sehen. "Also vertreten Sie das auch politisch!", sagt Felbinger. Die CSU beharrt darauf, Projekte wie "Voll in Form" oder die nachmittägliche Kooperationen mit Vereinen seien ein Erfolg. "Diesen Anträgen zuzustimmen und damit den Eindruck zu erwecken, dass nicht genug getan wird, kommt nicht in Frage", sagt Waschler.

© SZ vom 29.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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