Ingolstadt:Manager in Sozialprojekten: "Bei der Arbeit im Wald sind alle gleich"

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Vom Anzug in die Arbeitshosen: Bei dem kurzzeitigen Seitenwechsel sollen die Manager Führungsqualitäten entwickeln und andere Lebenswelten kennenlernen.

Von Johann Osel, Ingolstadt

Am Morgen vor dem Spiegel stellt sich für den Manager normalerweise die Frage: Welche Krawatte ziehe ich heute an? Im vergangenen Herbst aber, da musste Tobias Dierke umdenken und erst mal aus dem Fenster schauen - nach dem Wetter. Braucht er eine Jacke, zu den Sicherheitsschuhen und der grünen Arbeiterhose, wenn er rausgeht in den Wald, zum Brennholzmachen mit den Drogenabhängigen? Dierke ist kaufmännischer Leiter bei Siemens in Erlangen-Nürnberg, seine Sparte liefert Elektroantriebe für Fabriken, es geht in seinem Alltag um Verträge und Budgets, Meetings.

Für eine Woche jedoch war er bei Mudra, einem Nürnberger Suchthilfe-Projekt, das Abhängige berät, sauberes Spritzbesteck verteilt und vieles mehr, und das Abhängige wieder in Berufsleben und Alltag integrieren will. Unter anderem im Wald, bei Holzarbeit und Baumpflege. Eine Woche lang war Dierke Teil der Waldarbeitertruppe. Teil eines Teams, das sich mit Heroin und Crystal Meth, Schulden und Verzweiflung ebenso auskennt wie mit Haftstrafen. Seine Kinder haben sich die Augen gerieben, ob des Outfits wie des neuen Jobs. Tobias Dierke nennt es: "Raus aus der Komfortzone."

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Führungskräfte schnuppern in sozialen Einrichtungen, Nächstenliebe statt Nadelstreifen - das hat System. "Seitenwechsel" heißt das Programm, das aus der Schweiz stammt und vor 15 Jahren nach Deutschland und Bayern kam. Manager sollen in sozialen Grenzsituationen neue Führungsqualitäten entwickeln, sie lernen Menschen und deren Lebenswelten kennen, mit denen sie sonst nichts zu tun haben. Seit 2001 haben im Freistaat 340 Führungskräfte für eine Woche die Seite gewechselt, sie kommen von Sparkassen und Banken, Konzernen, zuweilen Mittelständlern und Verwaltungen.

Und sie gehen in Kliniken und Obdachlosen-Treffs, in Projekte für verhaltensauffällige Kinder oder Behinderte. Häufig in Nürnberg und München, doch auch in Cham oder Isny im Allgäu. Umgesetzt wird der Austausch vom Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt und einem Weiterbildungsinstitut für ethische Themen, gefördert von der Bayerischen Sparkassenstiftung. Die Stiftung hat am Freitag zum Jubiläum nach Ingolstadt geladen.

Es ist mehr als eine Feier, es soll ein Austausch sein, in der lichtdurchfluteten Vorstandsetage der Ingolstädter Sparkasse. Es gibt Gruppenarbeit und ein Plenum, Ansätze von Klassentreffen-Atmosphäre. Es ist aber auch ein wenig ein Treffen nach der Devise: Tue Gutes und rede darüber. Horcht man in manche Gruppen hinein, klingt es gar so, als habe da mancher den Hunger auf der Welt höchstpersönlich besiegt. Wobei man die Herausforderung im neuen sozialen Einsatzgebiet nachvollziehen kann - und den Stolz, es durchgestanden zu haben.

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"Zu uns kommen eher die Abenteuerlustigen", sagt Max Hopperdietzel, bei Mudra Chef für die berufliche Integration und Sozialpädagoge, dessen Sakko etwas weniger schick ist als die Jacken der Leute aus der freien Wirtschaft. Er bietet den Managern eine doppelte Aufgabe: die körperliche Arbeit und den Kontakt mit Abhängigen. "Würde man unsere Klienten und die Seitenwechsler zum Gespräch an einen runden Tisch setzen, wäre da eine natürliche Hierarchie. Bei der Arbeit im Wald sind alle gleich." Egal ob beim Aufschlichten oder Leberkäs holen.

Die Gäste erfahren von ihren neuen Kollegen, oft beiläufig: Wie man abrutscht im Leben, wie schnell man abrutschen kann. Harte Einblicke, harte körperliche Arbeit, Stämme ziehen und spalten, Holzscheite schichten und ausliefern. Da wird es schmutzig und nass, laut zudem, wenn man an die Spaltmaschinen denkt. Abgebrochen habe aber keiner, selbst bei einer Woche Dauerregen und müden Knochen.

Siemens-Kaufmann Dierke spricht lachend von einer "sehr gesunden Woche"; wird aber ernst, wenn er daran zurückdenkt. Offene Gespräche habe er gehabt. "Wir leben in unserer kleinen heilen Welt." Er habe auch viel über sich gelernt, sich selbst "kalibriert". Vielleicht könne er Ängste in bestimmten Milieus oder soziale Spannungen besser verstehen. Managementkurse gebe es "ja hoch und runter", froh sei er, dass sein Vorgesetzter die Idee mit dem Seitenwechsel hatte. Über Motorsägen hat er nebenbei noch was gelernt.

Bei Thomas Schertel, IT-Chef beim weltweit tätigen Textilhändler Witt im oberpfälzischen Weiden und ebenfalls Ex-Mudra-Waldarbeiter, ist es ähnlich. Er habe erkannt, "wie schmal der Grat ist zwischen einem normalen Leben und einem, das ins Chaos abstürzt". Das Junkie-Klischee aus "Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" sei seitdem tatsächlich ein Klischee. Normale Familienväter habe er getroffen, die in einer Stresssituation im Leben irgendwann falsch abgebogen sind, an Drogen kamen und nicht mehr los. "Das kann im Grunde jedem passieren", sagt Schertel. Beide Führungskräfte glauben, etwas für die Führung ihrer Teams mitgenommen zu haben. Das sagen viele in Ingolstadt.

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Bob Dylan wird zitiert in der Vorstandsetage der Sparkasse, und die Bibel. In den Kleingruppen geht es mitunter lebhaft zu: Ob zwanghafter Seitenwechsel okay ist, also vom Unternehmen zur Teilnahme verdonnert zu werden, erörtert eine Gruppe. Um eine neue Sicht aufs Leben geht es, vom "Bewusstsein, wie wir alle zusammenhängen in der Gesellschaft", spricht eine Dame. Außerdem redet man darüber, wie wichtig Sozialkompetenz und der Blick über den Tellerrand in der Arbeitswelt seien, "ein Schlüsselthema".

Wohl deswegen die Nachfrage nach dem Projekt, an 1700 Arbeitstagen habe in den anderthalb Jahrzehnten jemand die Seiten gewechselt. Mehr soziale Einrichtungen fragen an, als mitmachen könnten - es wird ausgewählt. Manche scheiden allerdings schnell aus, weil sie kein Konzept haben, sondern nur auf Sponsoring-Kontakte aus seien. Das wird abgelehnt - und ist auch nicht Ziel der Firmen, die ihre Leute schicken. Letztere wiederum sind, das zeigt eine Umfrage unter Teilnehmern bundesweit und auf Bayern übertragbar, mehrheitlich zufrieden.

Doch viele Manager mussten sich daran gewöhnen, dass die andere Seite eben ganz anders tickt. Max Hopperdietzel von Mudra erzählt, dass bei seiner Klientel, den Abhängigen oder frisch Cleanen, längst nicht klar sei, ob sie am Morgen überhaupt im Wald auftauchen - und in welchem Zustand. Ein berufliches Hilfsprojekt hat nun mal keine normalen Mitarbeiter. Auch "dass der Fokus nicht auf Gewinnmaximierung" liegt, hätten manche Seitenwechsler erst verstehen müssen. In anderen Einrichtungen fiel das drastischer aus.

Mancher, so hört man bei den Gesprächen im Foyer, habe die Manager-Rolle nicht richtig ablegen können, sei ja quasi hineinstolziert wie ein Unternehmensberater. Ein Satz, der mal gefallen sein soll: "Die Arbeit hier kann man auch locker mit der Hälfte der Leute machen."

© SZ vom 15.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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