Geschichte:Der "Wolpertinger" der Weltgesetze

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Die Sozialdemokraten feiern im Landtag 70 Jahre Bayerische Verfassung

Von Lisa Schnell, München

Zwei Damen in knallrotem Sakko drängen in den vollen Aufzug. Es geht nach oben für sie und für die SPD. Zumindest an diesem Abend im Landtag. So rot war der noch nie. Rote Krawatten bei den Herren, rote Dirndl bei den Damen. Ja sogar die Sonne erscheint als roter Ball am Abendhimmel, taucht München in ein warmes, sozialdemokratisches Licht.

So sehen es zumindest die 400 Gäste, die am Dienstag im Landtag 70 Jahre Bayerische Verfassung feiern - und natürlich einen ihrer Urheber, Wilhelm Hoegner. Ein Sozialdemokrat aus der Zeit, als die SPD noch Geschichte schrieb. "Bayerischer Patriot", "Baumeister des modernen Bayern", stimmt SPD-Fraktionschef Markus Rinderspacher die Lobeshymne an. Als eines von 13 Kindern wuchs Hoegner in armen Verhältnissen auf. Er hielt im Parlament flammende Reden gegen den Nationalsozialismus, stimmte 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz der Nazis. Er floh vor ihnen in die Schweiz, harrte dort zwölf Jahre aus im Exil, bis er 1945 auf einem US-Jeep wieder nach Bayern kam. Im Gepäck: "Ein Scherzl trockenes Brot, einige Äpfel und 23 Gesetzentwürfe", so Rinderspacher. Aus einem wurde die Bayerische Verfassung, die erste, die vom Volk selbst beschlossen wurde. "Ihr haben wir so unendlich viel zu verdanken", sagt Rinderspacher und zählt auf: Etwa den "Schwammerl-Paragraphen", der "die Aneignung wild wachsender Waldfrüchte" zum Grundrecht erhebt, aber vor allem habe Hoegner nicht nur eine "Charta für die Freiheit, sondern ein Plädoyer für soziale Gerechtigkeit" verfasst. "Die gesamte Volkswirtschaft sollte im Dienste des Gemeinwohls stehen, Ausländer, die unter Nichtbeachtung der in der Verfassung niedergelegten Grundrechte im Ausland verfolgt werden, dürfen nicht ausgewiesen werden", zitiert Rinderspacher und schreitet von der Vergangenheit in die Gegenwart, in die Flüchtlingsdebatte hinein. Nicht in der Verfassung stehe, dass Migranten Zuhause Deutsch sprechen müssen oder nur Zuwanderer aus christlich-abendländischen Gebieten erwünscht seien. Alles Forderungen der CSU, deren "autoritär-nationaler Rhetorik" Rinderspacher den "freiheitlich-sozialen Geist der Hoegner-Verfassung" abspricht. Langer Applaus des SPD-Publikums, das von Kabarettist Christian Springer gleich wieder auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird.

"Angesichts des Trümmerfeldes", lauten Hoegners erste Worte der Verfassung. "Wie hat er 1946 schon den Zustand der heutigen SPD voraussagen können?", fragt Springer. Überhaupt sei das hier eine "Feier für ein Stückerl Papier, das es gar nicht gibt". Die Bayerische Verfassung sei "der Wolpertinger unter den Weltgesetzen", das Original wurde nie gefunden, wahrscheinlich "hat's der Strauß g'fressn, weil's vom SPDler war", mutmaßt Springer. Und überhaupt, wenn sich die Politik nicht mehr anstrenge, sei die Verfassung bald nur noch ein "Witzpapier". Die Realität werde von Tag zu Tag "grausliger". Altersarmut, Bedrohung von Rechts, Menschen, "die an Urlaubsstränden verrecken, weil sie nach Europa wollen". Die Zeiten seien ernster geworden" und die Mahnungen von Springer gar nicht mehr lustig: "Es war noch nie gefahrloser, Politiker zu sein. Machen sie was draus!" Die CSU klaut der SPD immer die besten Ideen? "Na, dann haben's einfach mehr gute Ideen", sagt Springer. Seine Schelte kommt tatsächlich gut an, zumindest bei einer älteren Dame im Dirndl. "Man muss immer den Stachel löchern. Sonst bewegt sich nichts", sagt sie. Es helfe ja nichts, wenn man sich immer nur selber lobe, auch nicht der SPD. An diesem einen Abend aber, an dem die SPD ihren Verfassungsvater ehrt, sei ihr ein wenig Selbstlob gegönnt.

© SZ vom 29.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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