Geschichte:Alle Facetten eines normalen Lebens

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Roland Flade hat 45 Familiengeschichten bekannten und unbekannter Juden aus Unterfranken in einem Buch gesammelt. Eine "Schatztruhe", sagt der Zentralrat der Juden. Ein Thema, das ihn nicht mehr loslasse, sagt der Historiker

Von Katja Auer, Würzburg

Ludwig war ein treuer Freund für Ruth Hanover, sie besuchten gemeinsam die Schule, spielten miteinander. Als dem Mädchen mit elf Jahren nach einem Fahrradunfall das Bein amputiert wurde, besuchte Ludwig sie im Krankenhaus, später trug er ihr die Schultasche. 1936 wurden die Kinder im Würzburger Hofgarten von Hitlerjungen überfallen, weil sie Juden waren, "und bis auf den heutigen Tag höre ich in mir noch den metallisch-hölzernen Klang der Prothese, als Ruth mit Stiefeln getreten wurde", berichtete er später. Ludwig wanderte nach Palästina aus, seine Freundin sah er nie wieder. Ruth Hanover wurde von den Nazis in Sobibor ermordet, sie wurde nur 19 Jahre alt.

Der Würzburger Historiker Roland Flade hat die Geschichte aufgeschrieben, wie 44 weitere Lebensgeschichten von Juden in Unterfranken. Sie zeigen, dass die Juden dazugehörten, dass sie das gesellschaftliche Leben prägten. Wie Herta Mannheimer, die einzige Frau im letzten Heidingsfelder Stadtrat, bevor das Städtchen 1930 nach Würzburg eingemeindet wurde. Für die SPD saß die junge Frau unter 17 Männern von 1924 an in dem Gremium. 1937 emigrierte Herta Mannheimer nach Holland, von wo sie 1943 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie wurde sofort ermordet.

Dass so etwas passieren könnte, dass Juden in ihrer eigenen Heimat verfolgt würden, das hatte ein paar Jahre vorher kaum jemand glauben können. 2200 Juden lebten vor dem Krieg in Würzburg, Geschäftsleute, Künstler, Studenten, Ärzte, Lehrer. Ganz normale Deutsche. Menschen mit ausgeprägter Vaterlandsliebe. Wie der junge Richard Rosenburg, der unbedingt für sein Heimatland in den Kampf ziehen wollte. "Ich freue mich darauf, fürs Vaterland ein paar Feinde zusammenzuschießen", notierte er am 18. Oktober 1914. Rosenburg studierte in Würzburg Jura und Philosophie, war Mitglied der schlagenden Studentenverbindung Salia, der überwiegend jüdische junge Männer angehörten. Auf dem Foto guckt ein verträumter Kerl unter der Schirmmütze hervor, kein kriegserprobter Soldat. Ein solcher wollte er werden, ein Held, er meldete sich freiwillig. Rosenburg zog in den Krieg, für wenige Wochen nur, er fiel bei seinem zweiten Sturmangriff in der Nähe von Lodz. Da war er 18 Jahre alt.

Es sind solche Geschichten von bekannten und unbekannten Menschen, die Flade gesammelt hat. Eine "Schatztruhe" nennt Josef Schuster das Buch, der Präsident des Zentralrats der Juden, der selbst in Würzburg lebt. Besonders deswegen, weil es Juden nicht vor allem als Opfer zeige, sondern in allen Facetten eines normalen Lebens. In dem Buch werde nicht nur sichtbar, wie sich jüdisches Leben vor der NS-Zeit gestaltete, sondern auch, "welch einen schmerzhaften Verlust die deutsche Gesellschaft durch die erzwungene Auswanderung und die Ermordung der Juden erlitten hat".

Dass aus Flade ein ausgewiesener Kenner des jüdischen Lebens wurde, war ein Zufall, sagt er. Die Stadt suchte jemanden, der sich mit der jüdischen Geschichte beschäftigte und Flade war auf der Suche nach einem Job neben der Promotion. Dann hat ihn das Thema nicht mehr losgelassen. Einige Schicksale sind die bekannter Persönlichkeiten, wie das des Rabbiners Seligmann Bär Bamberger, der Bücher schrieb, die in der jüdischen Religion teilweise heute noch als Standardwerke gelten. Er traf 1866 auf den jungen König Ludwig II., als dieser Würzburg besuchte und Honoratioren um sich scharte. Auch jüdische. Bamberger war erfreut und legte große Hoffnung in den König: "Möchte mit göttlicher Hilfe unter dem glorreichen Zepter dieses jungen, hoffnungsvollen Monarchen die Stellung der Israeliten in Bayern eine ganz und gar würdige und glückliche werden." Sie hat sich leider nicht erfüllt.

Ganz andere politische Hoffnungen hegte Felix Fechenbach, der die Eltern in Würzburg zurückließ, um mitzuhelfen, die Monarchie abzuschaffen. Als Kurt Eisner nach dem Umsturz 1918 Ministerpräsident wurde, machte er Fechenbach zu seinem persönlichen Referenten. Als Eisner ermordet wurde, war Fechenbach Augenzeuge. Später wurde er Redakteur bei der SPD-Zeitung Volksblatt und kämpfte publizistisch gegen die NSDAP. Er wurde inhaftiert und 1933 von der SS erschossen. Heute gibt es in Würzburg ein Felix-Fechenbach-Haus.

Flade, Roland: Jüdische Familiengeschichten aus Unterfranken. Würzburg 2015. ISBN 978-3-925232893. 14,95 Euro.

© SZ vom 15.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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