Flüchtlinge in Bayern:Was ist Heimat?

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Ein Versuch der Annäherung: Das Fest der Kulturen in Fürstenfeldbruck. (Foto: Johannes Simon)

Angesichts der Zuwanderung gerät der zementierte Heimatbegriff der Bayern ins Wanken. Städte und Dörfer müssen sich dem Fremden öffnen - und es als Bereicherung verstehen.

Von Hans Kratzer

"Heimat ist da, wo man sich aufhängt!" Mit diesem Satz hat der Augsburger Schriftsteller Franz Dobler den Heimatbegriff um eine unerwartete, fast unheimliche Dimension erweitert. Tatsächlich gibt es Orte, die auf Lebensmüde eine magische Wirkung ausstrahlen, ein Aussichtspunkt an der Innleiten in Niederbayern etwa, wo der Fernblick an klaren Tagen bis ins Salzkammergut reicht. Und doch suchen manche Menschen ausgerechnet hier den Tod, an einem Flecken Heimat, wie er unschuldiger nicht sein könnte.

Ähnlich wie die dort erfolgten Suizide war auch das Wort Heimat lange Zeit ein Tabu. Die Nazis hatten den Begriff mit ihrer Ideologie vergiftet, niemand wollte ihn nach dem Krieg ernsthaft in den Mund nehmen. Doch dann kam die Globalisierung und spülte die Heimat wieder in unseren Alltag. Die Internationalisierung des Lebens hat bei den Menschen ein starkes Verlangen nach Sicherheit und Zugehörigkeit geweckt, das der Bayerische Rundfunk (BR) mit Sendungen wie Heimatspiegel, Heimatsound und Heimat aktuell zu befriedigen versucht. Vor wenigen Monaten hat der Sender sogar einen Hörfunkkanal BR-Heimat gestartet. Die Seifenoper "Dahoam is Dahoam" ist überdies die quotenstärkste Serie des BR.

Dass der Heimatbegriff im Freistaat eine höhere Wertigkeit besitzt als in den übrigen deutschen Bundesländern, hängt mit der langen Geschichte dieses Landes zusammen, sie reicht bis in die Antike zurück. Ein solches Beharren können nur wenige europäische Länder aufweisen. "Identität entsteht auch von der Geschichte her", sagt der Landeshistoriker Hubert Glaser. Eine 1500-jährige Geschichte formt eine umso stärkere Identität.

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Um zu erahnen, wie unverrückbar bayerische Menschen einst an ihre Scholle gebunden waren, muss man sich nur in die Dörfer hinaus begeben. Man begegnet dort immer noch alten Frauen, die über ihren Landkreis selten hinausgekommen sind, die Männer schon, die waren ja im Krieg. "Mei, wenn ich die Berge bloß einmal aus der Nähe sehen dürfte", seufzte die vor einigen Jahren gestorbene Bergsodler-Bäuerin, wenn der Föhn die Berge wieder einmal nah an sie herangetragen hatte. Ihr Wunsch ist nie in Erfüllung gegangen.

Oskar Maria Graf schilderte dieses Beharren am Beispiel seiner Vorfahren, die in der Nähe des Starnberger Sees lebten: "Aufhausen und die nächste Umgebung blieben für sie die Welt. Begräbnisse und Bittgänge führten sie hin und wieder in entferntere Dörfer, es mochte auch vorkommen, dass sie an einem sonnigen Nachmittag bis zum Seeufer gingen, doch alles erschien ihnen dort so ungewohnt fremd, dass sie sich fast davor fürchteten. Sie wurden erst wieder froh, wenn sie den Aufhauser Hof erreicht hatten."

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Dabei war die Heimat oft sehr grausam zu ihnen. Armut, Schwerarbeit, Kinderelend, das gab es im Überfluss. "D'Muatter derfat öfters sterben!", sagte die Autorin Maria Hartl als Vierjährige nach dem Tod der Mutter im Kindbett. Die Tante hatte Gebäck mitgebracht, zum Trost. So etwas Gutes hatten die Kinder nicht gekannt.

Und doch: Wenn sie von daheim fort waren, dann ging es den Landbewohnern häufig so wie dem Wiener Autor Alfred Polgar im amerikanischen Exil: Die Heimat sei ihm fremd geworden, die Fremde aber keine Heimat, sagte der vor dem Naziterror geflüchtete Schriftsteller. Ähnlich wie er flohen nach 1933 eine halbe Million Deutsche ins Ausland. 80 Jahre danach suchen nun Hunderttausende Flüchtlinge Zuflucht in Deutschland, in der Fremde. Sie stranden in Erstaufnahmelagern, traumatisiert von der Not in ihren Heimatländern. Kann der Freistaat Bayern für diese Menschen jemals eine Heimat werden, auch gefühlsmäßig? Eine Heimat, wie sie der senegalesische Taxifahrer Cissé gefunden hat, der allwöchentlich in der BR-Sendung "Blickpunkt Sport" ein joviales Fazit über seinen Lieblingsverein FC Bayern zum Besten geben darf, natürlich in astreinem Bairisch: "De Buam ham sauba gspuit, muas i wirklich song, servus, habe die Ehre!"

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Das Flüchtlingsdrama berührt die Frage, was Heimat in der heutigen Zeit bedeutet, unmittelbar. "Weh dem, der keine Heimat hat", schrieb Friedrich Nietzsche 1884, er hatte dabei den Menschen in seiner Unbehaustheit und in seiner Angst vor der eigenen Existenz vor Augen. Das Land Bayern hat in der Vergangenheit Flüchtlingen und Heimatvertriebenen in hohem Maß Zuflucht und Zukunft geboten.

Nach 1945 ist das damals sieben Millionen Einwohner starke Land zum Schmelztiegel verschiedener Stämme geworden, was seine soziologische Struktur verändert, seine Identität aber nicht zerstört hat. Das zeugt von der großen Integrationskraft dieser Region, mag dieser Prozess auch von Not und sozialen Spannungen begleitet gewesen sein. Die vollständige Integration der Vertriebenen aus den Ostgebieten dauerte eine ganze Generation - obwohl fast alle Flüchtlinge damals als Basis die gleiche Sprache, den christlichen Glauben und gemeinsame Werte mitbrachten.

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Die Flüchtlinge, die jetzt in Bayern Zuflucht suchen, haben oftmals einen anderen kulturellen und religiösen Hintergrund und andere Wertvorstellungen. Die Frage, wie sich das auf das gängige bayerische Heimatbild auswirken wird, beschäftigt mittlerweile auch die Parteien, deren Programme auf einer ähnlichen Wertebasis fußen. Schon zeichnet sich in der CSU angesichts der rasanten gesellschaftlichen Veränderungen ein vorsichtiger Abschied vom traditionellen Bayernbild ab.

Die CSU-Grundsatzkommission überlegt, wie bei einer wachsenden Zahl von Einwanderern die Bindekräfte der Gesellschaft erhalten bleiben können. "Was macht Heimat aus, was stiftet Identität in einem Freistaat, der heute schon bunter ist als weiß-blau", sagte Kommissionschef Markus Blume neulich beim Kongress der Zukunftskommission in München.

Im Jahr 2024 sollen 3,2 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Bayern leben, das ist ein Viertel der Bevölkerung, und vielleicht werden es noch viel mehr sein. "Bayern als Wohlstands-, Wohlfühl- und Werteland - das soll unser Kompass bleiben", lautet die noch sehr vage gehaltene Antwort von Heimatminister Markus Söder auf die Frage, wie der Freistaat in der Zukunft aufgestellt sein wird.

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Der Kniff, den das Königreich Bayern vor 150 Jahren angewendet hat, um die fremdelnden neuen Landesteile Schwaben und Franken zu integrieren, wird vermutlich nicht mehr funktionieren, trotz des Lederhosen- und Dirndl-Faschings auf der Münchner Wiesn. Die Wittelsbacher begannen damals, Brauchtum, Sprache und Trachten als staatsbildende Werte im Volk zu verankern.

Zweifellos haben Zwiebeltürme, Museen, Tracht und die schöne Landschaft starke heimatliche Bindekräfte entwickelt. Ein gutes Beispiel ist die Familie Aretin, die als eine ganz alte bayerische Familie gilt. Sie sind aber erst seit 300 Jahren hier, eigentlich stammt die Familie aus dem Tal Karabach. Die TV-Sprecherin Annette von Aretin hat gerne auf ihre englische Urgroßmutter, auf ihre Stief-Urgroßmutter aus Russland und auf familiäre Fäden nach Italien, Schweiz, Rumänien, Polen und Frankreich verwiesen. Die ganze Familie ist wie so viele andere ein europäisches Gemisch, und trotzdem bezeichnete sich der Spross Annette als eine glühende Niederbayerin.

Wie stark dieses Heimatgefühl im Freistaat ausgeprägt ist, zeigte eine Untersuchung des Bayerischen Rundfunks. 95 Prozent der Befragten gaben an, gerne in Bayern daheim zu sein. Überdies leben immer noch vier Fünftel der Bayern in jener Region, in der sie aufgewachsen sind, dem Wahlspruch des alten Cicero folgend: "Wo immer es gut geht, da ist Vaterland."

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Gerade in dieser Umbruchszeit ist es deshalb unabdingbar, über Heimat nachzudenken. Es geht darum, "unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu zu erfinden", schreibt die Kulturwissenschaftlerin Simone Egger. Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht, egal ob man Heimat als Ort, als Gefühl oder als Gegenstand versteht. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Hermann Bausinger hat Heimat überwiegend als eine Form der inneren Einstellung definiert. Insofern darf der moderne Heimatbegriff keinesfalls als Vehikel für eine Mia-san-mia-Mentalität dienen, die andere ausgrenzt, nur weil sie zum Beispiel keinen Einheimischen-Status haben.

Der oberbayerische Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler wirbt dafür, Heimat unter humanitären Gesichtspunkten zu bewahren. Überall gebe es Menschen, die sich einer Heimat verbunden fühlen, überall gebe es aber auch Diktaturen, Vertreibungen, Zwangsumsiedelungen, Folter und Todesstrafe. "Wir können nicht so tun, als ob das alles die konkrete Heimatpflege in Bayern nichts anginge", sagt Göttler. Er hält es für schwer nachvollziehbar, mit welch liebevoller Detailgenauigkeit sich die Heimatpflege um Trachten und Musikkultur, um Bräuche und Denkmäler kümmere, während lebens- und kulturverändernde Umwälzungen mit Wucht auf Dörfer und Städte heranrollen.

So betrachtet, kann Heimat auch in Bayern kein eng umgrenzter Begriff mehr sein. "Wir müssen vorhandenen Werten neue hinzufügen", sagt Göttler, "wir müssen das Fremde integrieren und als Bereicherung verstehen."

© SZ vom 01.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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