Flüchtlinge:Gefährlicher Weg nach Norden

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Bis vor einigen Wochen hat die Bundespolizei Güterzüge vom Brenner am Bahnhof von Raubling im Inntal abgesucht, was viele Pendler verärgert hat. Inzwischen finden die Kontrollen auf einem Nebengleis in Rosenheim statt. (Foto: Claus Schunk)

Die Reise ist riskant, manche lassen ihr Leben auf den Gleisen. Trotzdem steigt die Zahl der Menschen,die versuchen, als blinde Passagiere auf Güterzügen von Italien nach Bayern einzureisen

Von Matthias Köpf, Rosenheim

Es ist kalt in den Bergen, oben am Brenner liegt längst Schnee. Der Fahrtwind ist eisig, und wenn am Nachbargleis ein schneller Zug entgegenkommt, dann entwickelt das einen Sog, der einen Menschen schnell in den Tod reißen kann. Die Migranten, die von der deutschen Bundespolizei immer wieder in Güterzügen aus Italien und Tirol entdeckt werden, haben sich schon im Sommer oft die Glieder steif gefroren auf ihrer Fahrt in den stählernen Wannen unter den verladenen Lkw-Aufliegern, zitternd zwischen dreckstarrenden Zwillingsreifen, einen halben Meter über dem Gleisbett. Wer einen Platz in einem unverplombten Container findet oder sich die Plane eine Aufliegers aufgeschlitzt hat, der hat es noch gut erwischt. Vor ziemlich genau einem Jahr hat sich vor allem unter Migranten aus Westafrika und Eritrea die Fahrt als blinder Passagier auf Güterzügen als ein Weg zur illegalen Einreise nach Deutschland etabliert. Seitdem versucht die Bundespolizei, mit wiederkehrenden Kontrollen Leben zu retten und weitere Migranten von der gefährlichen Fahrt abzuhalten. Doch die Zahlen sinken nicht, sondern steigen eher an.

Zuletzt meldeten die Inspektionen vor allem in Rosenheim und München fast täglich neue Aufgriffe. Am Sonntag vor einer Woche waren es in München 24 Menschen an einem Tag, verteilt auf zwei verschiedene Bahnhöfe. Am Mittwoch wurden dann 17 Afrikaner auf den Gleisen zwischen dem Rangierbahnhof im Norden und dem Güterbahnhof Milbertshofen entdeckt. In Rosenheim hatte die Polizei an den Tagen zuvor fünf Jugendliche und zwei gerade volljährige Männer unter einem LKW-Auflieger entdeckt, neun Männer flogen bei der illegalen Einreise auf, weil Beamte vom Hubschrauber aus aufgeschlitzte Lastwagen-Planen entdeckt hatten. Wieder andere wurden aus der Luft mit Wärmebildkameras entdeckt. Am Dienstag war unter sechs Einreisenden eine Frau, die im achten Monat schwanger ist. Schwangere, Frauen und Kinder sind nur sehr selten unter den blinden Passagieren, doch die Bundespolizei betont solche Fälle gerne, weil sie selbst immer wieder ihre aufwendigen Kontrollen und die lauten Hubschrauberflüge rechtfertigen muss.

Bis vor einigen Wochen hat die Bundespolizei die Güterzüge vom Brenner im großen Stil mit Dutzenden Beamten bevorzugt am Bahnhof von Raubling im Inntal abgesucht, was immer eine Vollsperrung der Strecke notwendig gemacht und viele Pendler verärgert hat. Inzwischen hat die Deutsche Bahn ein beleuchtetes Nebengleis in Rosenheim mit Zäunen abgetrennt. Seitdem werden Güterzüge hier kontrolliert, ohne den übrigen Bahnbetrieb zu stören. In München und anderswo beschränkt sich die Bundespolizei eher auf kleinere Aktionen und Streifengänge. Oft machen Lokführer, Zugbegleiter oder Reisende auf Menschen in Gleisen aufmerksam. Solche Meldungen hat es bis zum Herbst vergangenen Jahres nicht gegeben, sagt Thomas Borowik von der Bundespolizeidirektion München. Er zieht daraus den Schluss, dass bis dahin tatsächlich keine Menschen auf Güterzügen eingereist sind.

Was dann begonnen hat, brach auch den vergangenen Winter über kaum ab. In der ersten Hälfte dieses Jahres hat die Bundespolizei für ganz Bayern 220 Einreisen per Güterzug registriert, seit Juli waren die Zahlen in allen Monaten dreistellig. Im Oktober waren es etwa 110 Menschen, und wenn es in diesem Monat so weitergeht, werden es noch mehr werden. Zugleich ist völlig offen, wie viele Migranten nicht entdeckt werden, denn die Kontrollen sind keineswegs lückenlos. Über die genaue Kontrolldichte schweigt die Bundespolizei aus "taktischen Gründen".

Sicher ist, dass auch blinde Passagiere über München hinauskommen. So bezahlte vor einigen Wochen ein junger Afrikaner seine Fahrt in Franken mit dem Leben. Er wollte bei Gemünden am Main von einem langsamen Güterzug abspringen und kam dabei buchstäblich unter die Räder. Zwei andere Männer ließen den Sterbenden liegen und verbrachten die Nacht im nahen Bahnhof, ehe sie bei der Polizei um Asyl baten. Es war der zweite nachgewiesene Todesfall in Deutschland. Anfang Juni war nahe Rosenheim ein Mann von einem fahrenden Zug ins Gleisbett gefallen und überrollt worden. Ende 2016 starben in Tirol zwei Menschen unter Lkw-Aufliegern, die vom Waggon gefahren wurden.

Auch in Tirol werden blinde Passagiere auf der Durchreise aufgegriffen, genaue Zahlen für Güterzüge kann die Landespolizei aber nicht nennen. Die Österreicher haben Mitte Oktober einen Kontrollpunkt am Brennersee eingerichtet, an dem Polizisten und Soldaten Züge aus Italien durchsuchen können. Dies soll die gelegentlichen Kontrollen in Steinach, Matrei und Innsbruck ersetzen, die dort zu Behinderungen und Beschwerden geführt haben.

Der Direktor der Landespolizei, Helmut Tomac, sieht den 1,3 Millionen Euro teuren Kontrollpunkt aber nur als "zweitbeste Möglichkeit" an. Viel besser wären aus seiner Sicht gemeinsame Kontrollen mit der italienischen Polizei am Bahnhof Brenner. "Ein diesbezüglicher Vorschlag Österreichs liegt der italienischen Regierung in Rom seit über einem Jahr vor," sagte Tomac bei der Inbetriebnahme des Kontrollpunkts. Diesen nannte Landeshauptmann Günther Platter (ÖVP) "ein Signal an die Schlepper sowie an Italien gegen das Durchwinken von Flüchtlingen. Es ist auch eine Warnung an Flüchtlinge." Wie viele Migranten sich von dieser Warnung und von den Kontrollen in Deutschland von der gefährlichen Fahrt abhalten lassen, ist ungewiss. Die Zahl derer, die in Bayern von den Zügen geholt werden, steigt.

© SZ vom 13.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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