Baum des Jahres:Der Traumbaum

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Die Tassilolinde ist der Legende nach mehr als 1300 Jahre alt. In ihrem Schatten erschienen Herzog Tassilo III. Engel, die Wasser schöpften. (Foto: Johannes Simon)

Goethe, Schiller, Heine, kaum ein Dichter, der nicht die Linde besungen hätte. In den Wäldern spielt sie praktisch keine Rolle, doch in vielen Dörfern bildet sie den Mittelpunkt. Der Lohn: Die Winterlinde ist "Baum des Jahres"

Von Christian Sebald, München

Die Tassilolinde im oberbayerischen Wessobrunn ist einer der mächtigsten Bäume Bayerns. Zwar sind die 25 Meter, welche die Winterlinde in den Himmel ragt, eher wenig spektakulär. Aber ihre sattgrüne, dicht belaubte Krone mit den Zigtausenden gelb-weißen, nach Honig duftenden Blütenrispen hat satte 27 Meter Durchmesser. Und ihr Stamm mit der tief gefurchten, schwärzlichgrauen Borke kommt auf 14 Meter Umfang, es braucht acht Männer, um ihn zu umfassen. Es sind freilich nicht nur die Dimensionen, welche die Tassilolinde zu einem Ehrfurcht einflößenden Baum machen. Es ist vor allem ihr Alter: Forstleute schätzen es auf 900 Jahre. Damit zählt sie zu den ältesten Winterlinden in Bayern. Der Legende nach ist sie sogar mehr als 1300 Jahre alt.

Es soll im Jahr 753 gewesen sein, als Tassilo III., der letzte bayerische Herzog aus dem Geschlecht der Agilolfinger, auf einer Jagd in den Wäldern im Südwesten des Ammersees unter der Winterlinde sein Lager aufschlug. "Nächtens hatte er einen eigenartigen Traum", berichtet der Wessobrunner Heimatpfleger Konrad Hölzl. Tassilo soll darin drei Quellen erblickt haben, die an einem Punkt zusammenflossen. Von ihm aus erhob sich eine Treppe in den Himmel. Engel stiegen herab, schöpften Wasser und stiegen wieder hinauf zur Himmelspforte, an der Petrus wachte. Am Morgen berichtete Tassilo seinen Begleitern von dem Traum, sie suchten nach der Quelle. An der Stelle, an der sie fündig wurden, ließ der Herzog Kloster Wessobrunn gründen. Der Name leitet sich von Wezzo her, dem Begleiter Tassilos, der die Quelle als erster entdeckte.

Die Winterlinde ist der Baum des Jahres 2016. Das ist erstaunlich - zumindest auf den ersten Blick. Denn für gewöhnlich zeichnet die "Schutzgemeinschaft Deutscher Wald" mit diesem Titel Baumarten aus, die eine gewisse forstliche Bedeutung haben. Das aber ist bei der Winterlinde überhaupt nicht der Fall. Genauso wenig, wie es für die Sommerlinde und die Silberlinde gilt - die beiden anderen Lindenarten, die in Bayern gedeihen. Nur 0,7 Prozent der Bäume in den Wäldern im Freistaat sind Linden. Auf Dorfplätzen, an Kirchen und Klöstern und immer wieder auch mitten in der freien Landschaft trifft man dagegen überall auf Linden. "Das ist der Grund, warum man Linden gar nicht hoch genug schätzen kann", sagt der Landschaftsarchitekt Gerhard Robert Richter, "es gilt für das alltägliche Zusammenleben, für die Literatur und für alle möglichen anderen Bereiche."

Die Bedeutung der Linde zeigt für Richter am eindrücklichsten das Lied "Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum" - gleich ob in der Fassung von Franz Schuberts "Winterreise" oder in Friedrich Silchers Bearbeitung als Volkslied. Wie überhaupt praktisch alle Dichter die Linde besangen, Walther von der Vogelweide genauso wie Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Friedrich Rückert oder Heinrich Heine, in dessen "Nachtgedanken" sich die patriotische Strophe findet: "Deutschland hat ewigen Bestand, es ist ein kerngesundes Land. Mit seinen Eichen, seinen Linden, werd' ich es immer wiederfinden."

Auch im Alltag war und ist die Linde von herausragender Bedeutung, für Richter ist sie sogar wichtiger als die angeblich urdeutsche Eiche. "Die Linde war und ist oft Mittelpunkt des Dorfes", sagt Richter, "mit ihrer mächtigen Krone stiftet sie Geborgenheit, man feiert unter ihr, einst sprach man in ihrem Schatten Recht und anderes mehr." Leipzig, Lindau und Hunderte andere Dörfer und Städte tragen die Linde in ihrem Namen, so wie auch zahlreiche Wirtshäuser. In Franken feiern sie noch heute unter Linden rauschende Sommerfeste. Mancherorts haben sie sogar Tanzböden samt Balustraden in die Bäume hineingebaut. Einst war die Linde der germanischen Fruchtbarkeitsgöttin Frigga geweiht, "mit ihren herzförmigen Blättern gilt sie seither als Glücksbringer und Baum der Liebe", sagt Richter.

Ökologen wiederum schätzen die Linde als Lebensraum für seltene Tiere - ob das nun Nagelfleck, Wollafter und andere Schmetterlinge sind oder Vogelarten wie der Kernbeißer oder der Fichtenkreuzschnabel. "Und natürlich sind der extrem seltene Eremit und der grün-glänzende Lindenprachtkäfer auf sie angewiesen", sagt Olaf Schmidt, der Präsident der Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft (LWF). Am wichtigsten sind Linden freilich für die Bienen. Denn Linden blühen sehr spät. Die Winterlinde steht erst dieser Tage in voller Blüte, die Silberlinde folgt Ende Juli. Lindennektar enthält zudem sehr viel Zucker, eine Linde bringt daher bis zu 30 Kilo Honig pro Jahr.

Dabei sind insbesondere Winterlinden genügsam, sie wachsen schnell und brauchen wenig Pflege. Linden kommen auch auf eher kargen Böden gut zurecht, sie halten heiße Tage ebenso aus wie Frost. Außerdem gedeihen sie auch im Schatten - vor Häuserfronten etwa. Die Stadtgärtnerei in Nürnberg pflanzt deshalb bevorzugt Winterlinden, wenn sie Alleen oder Grünstreifen anlegt. Inzwischen werden auch Förster auf die Winterlinde aufmerksam. Der Grund: Eschen, Ulmen und andere Laubbäume tun sich in Bayern immer schwerer, sie werden von Schädlingen dahingerafft, der Klimawandel trifft sie hart. "Die Winterlinde ist dagegen erstaunlich robust", sagt LWF-Chef Schmidt. "Daher wird sie für uns Förster interessant, zumal sie bis ins hohe Alter prächtig dasteht."

Dafür ist die Wessobrunner Tassilolinde ebenfalls der Beweis, ob sie nun tausend Jahre alt ist oder 1300. "Nur in den Siebzigerjahren hat ihr einmal ein Sturm übel mitgespielt", sagt Heimatpfleger Hölzl. "Da ist ein mächtiger Ast abgebrochen." Die Wunde war so heftig, dass man glaubte, der Baum gehe daran zugrunde. Um das Ende hinauszuzögern, sicherte man ihn mit Stahlseilen. Aber die Wunde schloss sich, die Winterlinde schlägt aus wie eh und je. "Unsere Tassilolinde überlebt uns alle", sagt Hölzl stolz. "Die steht auch noch in hundert oder 200 Jahren.

© SZ vom 02.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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