Verbrechen im Nationalsozialismus:Ein Abschied von Legenden und Lebenslügen

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Auch 66 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft erregen Berichte über die Menschenversuche von NS-Ärzten viel Aufmerksamkeit - wenn sich Institutionen zu ihrer historischen Schuld bekennen.

Joachim Käppner

Es sind einfache Wahrheiten. "Ärzte haben in der Zeit des Nationalsozialismus Tod und Leiden von Menschen herbeigeführt, angeordnet oder gnadenlos verwaltet", sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, nun zur Vorstellung des Berichts über die Forschungsmängel beim Thema Medizin und Nationalsozialismus.

Militärärzte des KZ Dachau quälen einen Häftling in einem Wasserbottich mit Eiswasser, um die Folgen von Unterkühlung zu untersuchen. (Foto: AP)

Es kann noch heute, 66 Jahre nach dem Ende der Naziherrschaft, viel Aufmerksamkeit erregen, wenn sich Institutionen zu einer historischen Schuld bekennen, die für Historiker schon seit sehr langer Zeit offensichtlich war. Denn jedes Mal müssen sich diese Institutionen endgültig von Legenden und Lebenslügen verabschieden.

Deswegen rumort es in konservativen Blättern, wenn das Auswärtige Amt seine so unerfreuliche wie längst erwiesene NS-Geschichte aufarbeitet und der Praxis der "Mumien" im eigenen Haus ein Ende macht, geschichtsklitternde Nachrufe auf altgediente Diplomaten zu verfassen.

Und hätte man vor fünfzig Jahren jene Kriterien angelegt, die nun aus guten Gründen im Fall des Angeklagten John Demjanjuk gelten - die Justiz hätte viele Hunderttausende vor Gericht stellen müssen, nämlich alle, die Teil des großen Räderwerks waren, das die Maschinerie des Mordens am Laufen hielt.

Viele Täter gehörten zum Beispiel zur Polizei, die maßgeblich am Holocaust und an Verbrechen an Regimegegnern und Zwangsarbeitern beteiligt war. Ihr widmet das Deutsche Historische Museum in Berlin vom 1. April an eine Ausstellung, deren Fazit noch immer verstört: "Nur wenige Polizisten mussten sich für die verübten Verbrechen nach 1945 vor Gericht verantworten. Viele konnten in der Bundesrepublik ihre Karrieren im Polizeidienst fortsetzen."

Das Dritte Reich, der Schatten der Schuld, die "Bewältigung" der dunklen Zeit, die dem britischen Publizisten und Deutschlandkenner Timothy Garton Ash nach wie vor als "Maßstab des Bösen in der Politik" gilt - die NS-Vergangenheit kommt den Deutschen näher, je länger sie zurückliegt.

Noch immer erscheint eine Flut von Büchern und TV-Dokus zum Thema, erforschen Schüler und Lokalhistoriker, was damals am eigenen Ort geschah - und das meist ohne jede "Schuldbesessenheit", die noch vor 25 Jahren, während des Historikerstreits, von den Konservativen als Schreckbild heraufbeschworen wurde.

Heute weiß man, dass selbstredend nicht alle Deutschen und nicht einmal die Mehrheit, aber eben doch breite Massen der Gesellschaft das NS-Regime aktiv nicht nur bejahten, sondern mittrugen bis in seine Untaten hinein. Man weiß, dass diese Untaten nicht allein "im deutschen Namen" von Hitler und seine Paladinen, von SS und Gestapo begangen wurden. Der Historiker Thomas Sandkühler hat in einer großangelegten Studie ("Endlösung in Galizien") die Vielzahl der Beteiligten nachgewiesen - in Zivilverwaltung, Wirtschaft, Polizei, Reichsbahn, Wehrmacht, Hilfstruppen aus den besetzten Ländern.

Solange in der Bundesrepublik die Generation, die das Regime aktiv oder auch nur zustimmend passiv getragen hatte, noch dominierte, wäre eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, wie wir sie heute kennen, ein Spiegel der Schuld gewesen, in den zu viele nicht zu sehen wagten, auch und gerade nicht innerhalb der Machteliten.

Erst seit dem Generationswechsel in den späten siebziger Jahren hat Westdeutschland erst zögernd, dann immer intensiver "seine schwere Geschichte sorgfältig erforscht, dokumentiert und gelehrt", schreibt Ash und empfiehlt das deutsche Beispiel sogar den arabischen Staaten, sollte dort auf Dauer ein demokratischer Umbruch gelingen.

In den fünfziger Jahren war das politisch nicht gewollt. Mitglieder der Bundesregierung sprachen sogar beim Alliierten Hochkommissar vor, um eine Begnadigung jener Massenmörder wie Otto Ohlendorf zu erreichen, die als Leiter der SS-Einsatzgruppen Hunderttausende Juden hatten umbringen lassen.

In der "antifaschistischen" DDR beließ man es im Wesentlichen dabei, Auschwitz zum Problem der Westdeutschen zu erklären.

Auf der Suche nach der Antwort, wie ein verbrecherisches Regime so viele Menschen mitziehen konnte, sind die letzten Augenzeugen jetzt gefragter denn je. Heute sind die Menschen, die den Krieg und die Verbrechen, Flucht und Bombennächte noch als Erwachsene und Handelnde miterlebt haben, sehr alt.

Im Juni jährt sich zum 70. Mal der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, der als Vernichtungskrieg geplant und geführt wurde. Aber ein 19-jähriger Wehrpflichtiger, der damals in einem Panzer saß, wäre heute schon 89 Jahre alt. Eine neue Herausforderung im Umgang mit der Geschichte wird sich stellen, wenn diese Zeugen einmal nicht mehr am Leben sind.

© SZ vom 24.03.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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