UN-Gipfel in New York:Wo Deutschland unterentwickelt ist

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Kanzlerin Merkel bei ihrer Rede in New York. (Foto: dpa)

Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen richtet sich nicht nur an die Ärmsten, sondern an alle. Auch Deutschland wird so zu einem Entwicklungsland - und das zu Recht.

Kommentar von Michael Bauchmüller

Deutschland ist ein reiches, ein fortschrittliches Land. Es ist so wohlhabend, dass es anderen Ländern helfen kann, damit sie auch ein bisschen fortschrittlicher werden können und auch ein bisschen reicher. In der Terminologie der Politik nennt sich das dann "Bekämpfung von Fluchtursachen".

So richtig und geboten derlei Hilfe ist, enthüllt sie doch auch eine ziemlich einseitige Weltsicht. "Unterentwickelt", das sind die anderen, die "Entwicklungsländer". Deutschland, Europa, der reiche Norden - das ist die industrialisierte, entwickelte Welt. Dass sogenannter Fortschritt auch in die falsche Richtung, in den kollektiven Kollaps führen kann, darüber spricht keiner gern. Aber wehe, die ganze Welt pflegte den verschwenderischen Lebensstil der Deutschen, der Europäer oder Nordamerikaner.

Umso bemerkenswerter ist jene "Agenda 2030", der sich die Vereinten Nationen nun verschreiben wollen, eine Art Anleitung zur Zukunftsfähigkeit. Es ist ein beachtliches Manifest, voll von Zielen, Unterzielen und Bekenntnissen für eine bessere Welt. Vor allem aber richtet es sich nicht mehr nur an die Ärmsten, sondern an alle. Auch das reiche und fortschrittliche Deutschland wird damit zu einem Entwicklungsland. Und das mehr als verdient.

Der Lebensstil der reichen Länder bringt den Planeten an seine Grenze

Das liegt am großen Selbstbetrug der hiesigen "Nachhaltigkeit". Auch diese Bundesregierung hat sie sich auf die Fahnen geschrieben, allein 68-mal taucht die Nachhaltigkeit in irgendeiner Form im Koalitionsvertrag von Union und SPD auf. Doch dahinter steht alles und nichts: die Konsolidierung der Staatsfinanzen, das Wachstumsmodell, selbst der Bau neuer Straßen und Brücken. Von einer nachhaltigen Entwicklung im eigentlichen Sinne ist das fortschrittliche Deutschland weit entfernt. Sie würde verlangen, dem Planeten nicht mehr zu nehmen, als er reproduzieren kann; ihm nicht mehr zuzumuten, als er zu verkraften imstande ist. Mehr noch, es gibt auch so etwas wie soziale Nachhaltigkeit, sie umfasst Fragen der Verteilung von Armut und Reichtum, der Chancengleichheit und Gleichberechtigung. Das Entwicklungsland Deutschland könnte bei alldem einigen Fortschritt vertragen.

Das lässt sich schwer erklären in einem Land, dem es eigentlich doch ganz gut geht. Nur konsumieren dessen Einwohner eben auch Fische, für die andernorts Schleppnetze die Meeresfauna zerstören. Sie greifen zu günstigen Lebensmitteln - und nehmen hin, dass eine intensive Landwirtschaft Flüsse zerstört und Arten sterben lässt. Sie versorgen sich an Tankstellen und Steckdosen mit Öl und Kohle - Energien, die sich nie mehr werden erneuern lassen. Es ist der Konsum- und Lebensstil der Industrieländer, nicht der Armen, der die Grenzen der Belastbarkeit bricht.

Die Agenda der Vereinten Nationen greift erstmals all diese Probleme auf, sie widmet sich Armut und Mangelernährung ebenso wie dem Zustand der Ozeane, sie verlangt einen zukunftsfähigen und ressourcenschonenden Konsum ebenso wie eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. Sollten die Staaten ernst nehmen, was sie an diesem Wochenende verabreden, dann hätte jeder einzelne einiges zu tun, vor allem daheim.

Zu glauben, dass dies wegen eines gut gemeinten UN-Papiers geschieht, wäre naiv. Aber die Agenda kann helfen, Fortschritt und Stillstand zählbar zu machen. Sie kann eine kritische Öffentlichkeit mobilisieren, die mehr von einer Regierung verlangt als große Worte einer Kanzlerin. Denn sie werden vermessen werden, die unbequemen Wahrheiten. Auch an denen mangelt es nicht in diesem reichen Land.

© SZ vom 26.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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