Südafrika:Geburtsstunde der Urmenschen

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Der Australopithecus sediba, eine neu entdeckte Hominiden-Art, ist vielleicht das entscheidende Bindeglied im Stammbaum des Menschen.

Hubert Filser

Die kleine Frau, vielleicht Ende 20, streift mit dem etwa zehnjährigen, fast gleich großen Jungen durch die zerklüftete, bewaldete Hügellandschaft. Sie suchen nach Wasser. Die Trockenheit und die Hitze der südafrikanischen Sonne haben den Fluss weiter unten am Hang versiegen lassen. Sie hoffen, in einer der Höhlen im Berg Wasser zu finden, vielleicht in einem unterirdischen Becken. Doch dann übersehen die beiden die Öffnung im Boden. Sie fallen zehn, fünfzehn Meter tief. Dicht beieinander bleiben sie liegen.

Das Unglück von damals ist das Glück der Forscher von heute, insbesondere das des Anthropologen Lee Berger von der Universität Witwatersrand. Im Höhlensystem von Malapa in Südafrika, 40 Kilometer nördlich von Johannesburg, hat er die knapp zwei Millionen Jahre alten fossilen Überreste der beiden Hominiden gefunden: Zähne, zahlreiche Knochen, die Kiefer und ein kompletter Schädel sind erhalten.

Und sie sind Zeugen einer neuen Hominiden-Art, die Australopithecus sediba getauft wurde. So schaffte es die Nachricht vom Fund auf die aktuelle Titelseite der Fachzeitschrift Science.

Dass die Forscher die Höhlen überhaupt entdecken konnten, verdanken sie Google Earth. Lee Berger und sein Kollege, der Geologe Paul Dirks, begannen im März 2008 mit Hilfe der Software, einen Übersichtsplan aller bekannten Fundorte der Gegend zu erstellen, die als eine der "Wiegen der Menschheit" gilt.

Bis zum Juli hatte Berger mittels der Satellitenaufnahmen und ergänzender Feldforschung 500 weitere Höhlen entdeckt, darunter rund 25 mit fossilen Überresten - ein gigantisches Ergebnis. Vor allem eine bis dahin unerforschte Formation im Tal von Grootvleispruit bei Malapa fiel ihm auf.

Der Sohn wird fündig

Am 15. August fährt der Anthropologe mit seinem neunjährigen Sohn Matthew in die Region. Dieser entdeckt den ersten menschlichen Knochen, das Schlüsselbein eines Vormenschen. Schnell wächst die Zahl der Funde, die Höhle erweist sich als wissenschaftliche Goldgrube: Ein menschlicher Kiefer mit einem Eckzahn taucht auf, er gehört zu dem etwa zehnjährigen Jungen - und schließlich die Überreste einer erwachsenen Frau.

60 Wissenschaftler vermessen die Knochen, vergleichen sie mit anderen Fossilien und stellen fest: Es handelt sich um eine bislang unbekannte Art, möglicherweise ein entscheidendes Bindeglied im menschlichen Stammbaum.

Lee Berger wählte die Zusatzbezeichnung "sediba", was in der einheimischen Sprache Sotho Quelle oder Ursprung bedeutet. Der Anthropologe deutet damit an, wie er selbst den Fund einordnet: "Ich glaube, wir haben es hier mit einem guten Kandidaten für die Übergangsart vom südafrikanischen Affenmenschen Australopithecus africanus entweder zum Homo habilis oder vielleicht sogar zu unserem direkten Vorfahren, dem Homo erectus, zu tun", sagt Berger. "Wir gewinnen hier Einblick in eine kritische Phase der menschlichen Evolution, als die Hominiden den entscheidenden Schritt vom Leben auf den Bäumen hin zum Leben auf dem Boden machten."

Der Fund könnte also aus genau der Zeit stammen, als der Übergang zur Gattung Mensch stattfand. " Australopithecus sediba scheint ein Mosaik von Eigenschaften zu bieten, die uns ein Tier zeigen, das in beiden Welten zurechtkam."

Australopithecus, nicht Homo

Sind die Forscher also zur Geburtsstunde der Urmenschen vorgestoßen? Beide Vormenschen waren 1,27 Meter groß, die Frau wog etwa 33 Kilogramm, der Junge 27 Kilogramm. Sie hatten relativ schmale Körper mit langen, kräftigen Armen und kurzen Händen. Schädel und Hüfte ähneln bereits denen der Gattung Mensch, die beiden Wesen konnten bereits aufrecht gehen.

Mit ihren langen Beinen liefen sie möglicherweise ähnlich wie heutige Menschen. Doch ihr Gehirn war noch deutlich kleiner: Mit 420 Kubikzentimetern hatte es weniger als ein Drittel des Volumens eines Homo-sapiens-Hirns - kaum größer als das eines Schimpansen. Die Zähne hingegen sind ähnlich groß wie jene von frühen Exemplaren der Gattung Mensch. Der Oberkörper wiederum gleicht in seinen Proportionen noch den Australopithecinen.

Die Forscher beschlossen deshalb, wie sie sagen, "konservativ zu bleiben" und ordneten die beiden Individuen der Gattung Australopithecus zu - trotz der Homo-Merkmale. Beim Alter der Funde herrscht Sicherheit. Die Forscher konnten aufgrund des Gehalts und der Isotopenverhältnisse der Elemente Uran und Blei im umgebenden Gestein das Alter auf 1,78 bis 1,95 Millionen Jahre datieren.

Ob die neue Art Werkzeuge benutzt hat wie etwa der Homo habilis, lässt sich nicht sagen, auch nicht, ob sie bereits in die Zukunft planen konnte. Doch sie unterscheidet sich klar vom Homo erectus, dessen Entwicklung ebenfalls vor rund zwei Millionen Jahren begann. Dieser Newcomer mit seinem kräftigen, großen Skelett und dem massiven Schädel hatte als erster Frühmensch ein stattliches Gehirn von bis zu 1300 Kubikzentimetern.

Der Turkana-Boy, ein berühmtes Skelett vom Ostufer des Turkana-Sees in Nordkenia, maß bereits 1,62 Meter. Und der Homo erectus konnte die Savanne durchqueren, jagen und vielleicht schon rennen. Hier allerdings war auch der jetzt entdeckte Australopithecus sediba auf einem guten Weg: Der Junge und die Frau konnte aufgrund ihrer verbesserten Motorik wohl schon schnell gehen, womöglich ein Grund, warum sie die Höhlenöffnung übersahen und in die Tiefe stürzten.

Fast zwei Millionen Jahre lagen die kleine Frau und der Junge seither in der Kalksteinhöhle. Nur einmal, kurz nach ihrem Tod, muss ein mächtiges Unwetter so viel Wasser in die Öffnungen gepeitscht haben, dass die Fluten die menschlichen und tierischen Überreste tiefer hinunter in das Höhlensystem schoben, bis sie rund 50 Meter unter der Erde in einer Art Pool landeten, der mit Wasser gefüllt war. Dieser trocknete aus, Sediment und Knochen versteinerten langsam. An der Oberfläche trug der Wind über die Jahrmillionen den Hügel ab, so dass die Ausgrabungsstätte heute nur noch wenige Meter tief liegt.

Am Seil zu den Fossilien

Vor zwei Millionen Jahren war die Gegend mit einer Mischung aus Wald und offener Graslandschaft bedeckt, die Flüsse und Bäche hatten sich noch nicht so tief ins Kalkgestein gegraben wie heute. Heute ist die Landschaft stark zerklüftet, Grashänge fallen steil hinab zu den Flussläufen. Dazwischen ragen einzelne Kalksteinfelsen auf, von denen viele Höhlen in sich bergen.

Das Höhlensystem von Malapa hat eine Ausdehnung von 500 mal 100 Metern, es zieht sich entlang einer Hügelflanke bis auf eine Höhe von1450 Metern. Die Höhlen werden tiefer, je weiter oben sie am Hang liegen. Bis zu 30 Metern geht es an manchen Stellen hinab in einen dunklen Schlund. Die Forscher mussten sich abseilen, um an die Ausgrabungsorte zu gelangen. Wer die Löcher im Boden übersieht, kann auch heute tödlich abstürzen.

Nicht nur die beiden Hominiden seien dort verendet, schreiben die Forscher, sondern auch einige damals lebende Tiere, deren Skelette sich im Höhlensediment fanden: eine Katze mit Säbelzähnen, eine Wildkatze, eine braune Hyäne, ein Wildhund, Kaninchen, Antilopen und sogar ein Pferd. Wie genau sie dahin kamen, darüber lässt sich nur spekulieren.

Dennoch tragen auch diese Überreste dazu bei, die Urzeitlandschaft nach und nach zu rekonstruieren. Tierische Knochenfunde erlauben den Forschern einen Einblick in die frühe Fauna, mit Pollen können sie die Vegetation bestimmen. Mit jedem neuen Fund lässt sich so die Frage, wo wir Menschen herkommen und wie unsere Gattung entstand, besser beantworten.

© SZ vom 9.4.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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