Die Weltgesundheitsorganisation hat am Dienstag die von Handys ausgehende Strahlung als "möglicherweise krebserregend" eingestuft. Bei besonders intensiven Nutzern von Mobiltelefonen bestehe ein etwa 40 Prozent erhöhtes Risiko, einen seltenen Gehirntumor, ein sogenanntes Gliom, zu entwickeln. Zu dieser Gruppe gehören Menschen, die seit zehn Jahren ein Handy nutzen und damit 30 Minuten am Tag telefonieren. Besonders an der Seite, an die Nutzer das Handy dabei gewohnheitsmäßig pressen, ist das Risiko eines Krebsbefalls Studien zufolge erhöht.
31 Fachleute aus 14 Ländern hatten sich in der vergangenen Woche bei der Internationalen Krebsforschungsagentur IARC in Lyon getroffen, einem Teil der UN-Organisation für Gesundheit (WHO). Ihnen lagen Daten aus einer vor Jahren abgeschlossenen internationalen Untersuchung vor, der Interphone-Studie, die von Lyon aus koordiniert worden war. Schon deren Abschlussbericht im Mai 2010 sowie vorher veröffentlichte Teilergebnisse aus einigen Ländern hatten die jetzt offizielle Risikoschätzung ergeben.
Vor einem Jahr hatte die Leiterin der Studie, Elisabeth Cardis, gesagt: "Die obersten zehn Prozent unserer Studiengruppe scheinen tatsächlich ein erhöhtes Risiko zu haben, ein Gliom zu entwickeln." An diesem Leiden erkranken in Europa pro Jahr etwa fünf von 100.000 Menschen.
Handystrahlung wird von dem WHO nunmehr in der Kategorie 2b geführt: "possibly carcinogenic to humans" - möglicherweise krebserregend. In dieser Kategorie werden 266 Chemikalien sowie Tätigkeiten geführt. Etwa die Arbeit als Feuerwehrmann oder in einer chemischen Reinigung, oder Auspuffgase eines Benzinmotors, Kaffee als Risikofaktor für Blasenkrebs und das geächtete Pflanzenschutzmittel DDT.
"Die Beweislage, zu der ständig noch Daten hinzukommen, ist stark genug, um die 2b-Klassifikation (für Handystrahlung, d. Red.) zu rechtfertigen", sagte Jonathan Samet von der University of Southern California, Leiter der Arbeitsgruppe. "Unsere Schlussfolgerung bedeutet, dass es ein Risiko geben könnte und deswegen müssen wir die Verbindung von Mobiltelefonen und Krebsrisiko genau beobachten."
IARC-Direktor Christopher Wild verwies zudem auf die große Anzahl von Handynutzern. Jeder Krebsverdacht stelle daher ein großes Gesundheitsproblem dar. Zwar sei noch weitere Forschung gerade bei Langzeitnutzern nötig, "aber es ist wichtig, pragmatische Maßnahmen zu ergreifen, um die Strahlenbelastung zu reduzieren, zum Beispiel Freisprecheinrichtungen zu nutzen und SMS-Nachrichten zu verschicken". Diese Botschaft verbreitet zum Beispiel auch das deutsche Bundesamt für Strahlenschutz seit Jahren.
Die Interphone-Studie, an der sich auch Forscher aus Deutschland beteiligt hatten, war für viele Fachleute enttäuschend. Die Veröffentlichung der Ergebnisse hatte sich um Jahre verzögert. Die Forscher aus 13 Ländern hatten in den frühen 2000er-Jahren 5200 Krebspatienten mit 7700 Gesunden verglichen. Damals waren Mobiltelefone weniger verbreitet als heute, und die Anzahl langjähriger Nutzer entsprechend klein.
Über die ganze Gruppe betrachtet ging von Handys keinerlei Gefahr aus, ja die Geräte schienen sogar vor Gehirntumoren zu schützen. "Das hat keine biologische Basis, sondern liegt an methodischen Problemen unserer Studie", sagte Cardis. Stattdessen hieß es auf der ersten Seite der Studien-Publikation: "Insgesamt wurde mit dem Gebrauch von Mobiltelefonen kein erhöhtes Risiko für Gliome und Meningeome beobachtet", es gebe aber "Hinweise" darauf.
Die Resultate wiesen allerdings auch das erhöhte Risiko für intensive Nutzer aus. "Das ergibt ein klares, widerspruchsfreies Bild", bestätigte im vergangenen Mai der Epidemiologe Eberhard Greiser, der früher ein Institut der Universität Bremen geleitet hatte. "Eine hohe Dosis Strahlung führt im betroffenen Gewebe zum Ausbruch eines seltenen Tumors."
Bei diesem Teilergebnis hatte aber unter anderem die Erinnerung der Krebspatienten eine Rolle gespielt, an welche Seite des Kopfes sie ihre Handys normalerweise gehalten hatten. Etliche Forscher fürchteten, die Erinnerung sei entweder getrübt, oder durch die Diagnose des Tumors auf einer Kopfseite beeinflusst. In einer ausführlichen Analyse sprachen manche Indizien für diese These, viele aber auch dagegen, so dass die entsprechenden Daten in der insgesamt vorsichtig formulierten Auswertung stehen blieben.
Bei der Bewertung der Zahlen im Abschlussbericht gebe es darum "legitime Unterschiede der Interpretation" zwischen den Forschern, so Cardis im vergangenen Mai. Insider hatten auch von handfestem Streit in der Gruppe der 21 leitenden Wissenschaftler gesprochen. Diese Differenzen hatten sich seitdem immer wieder in Kommentaren aus der Handyindustrie und von Mobilfunk-kritischen Forschern und Bürgerinitiativen niedergeschlagen, die sich jeweils die Teile aus der Studie heraussuchten, die zu ihrem Weltbild passten. Auch die WHO-Klassifikation und die Begründung dazu werden vermutlich derart aufgefasst und ausgeschlachtet.