Ökopsychologie:Baum statt Medikament

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US-Psychologen propagieren die Heilkraft von Wäldern und Wiesen - und warnen vor psychischen Störungen, wenn Naturerfahrungen fehlen. Doch europäische Experten sind skeptisch.

Hubertus Breuer

Psychotherapeutin Linda Buzzell-Saltzman aus Santa Barbara in Kalifornien legt ihre Patienten nur ungern auf die Couch. Sie schickt sie lieber in die Natur, genauer gesagt, in ihren dicht bewachsenen Garten. "Im Grünen fällt es Menschen oft leichter, ihre Sorgen und Gedanken zu artikulieren."

Die Mitherausgeberin des auf Englisch publizierten Sammelbandes "Ökotherapie" glaubt fest an die Heilkraft von Gärten, Wald und Wiesen - und sie ist damit nicht allein. Gerade an der Westküste der USA setzt eine wachsende Zahl von Therapeuten auf Spaziergänge im Grünen statt auf Medikamente und herkömmliche Psychotherapie.

Als sogenannte Ökopsychologen wollen sie das angeblich gestörte geistige Verhältnis der Menschen zur Natur wieder ins Gleichgewicht bringen. Schon gibt es ein neues Fachjournal namens Ecopsychology.

Sein Ziel, formuliert der in Oregon Psychologie lehrende Herausgeber Thomas Doherty so: "Wir wollen erforschen, wie der Mensch die Natur erlebt, damit er eine intakte emotionale Verbindung zu ihr pflegen und verantwortlich handeln kann."

Natur - gut für die Psyche

Der Versuch, Ökologie und Psychologie zusammen zu bringen, hat prominente Vordenker. Der Biologe und Kybernetiker Gregory Bateson (1904 bis 1980) etwa behauptete, Natur und Mensch seien Teil eines großen Informationssystems; ein Gedanke, der in dem Öko-Science-Fiction-Film "Avatar" zu neuen Ehren kommt.

1984 schrieb der Harvard-Zoologe E.O.Wilson das Buch "Biophilia", in dem er eine angeborene Neigung der Menschen postuliert, sich allem Lebendigem verbunden zu fühlen. Es sind allerdings Hypothesen, die sich ebenso schwer nachweisen wie widerlegen lassen.

Ökopsychologen beginnen ihre Argumentation daher mit zwei weitgehend unbestrittenen Thesen. Zum einen: "Naturerleben fördert die Psyche." Und: "Zu wenig Natur schadet dem Menschen." So haben etliche Studien gezeigt, dass Stressindikatoren wie Schweißbildung oder Herzfrequenz sinken, wenn Menschen Natur erfahren.

Bekannt wurde ein Experiment des Verhaltensforschers Roger Ulrich von der Texas A&M University aus den 1980er-Jahren. Er platzierte zwei Patientengruppen in unterschiedliche Krankenhauszimmer. Eine Gruppe sah auf eine Backsteinwand, die andere auf eine Baumgruppe.

Wer ins begrünte Freie blickte, brauchte weniger Schmerzmittel, rief seltener nach dem Pflegepersonal und konnte früher entlassen werden. Mittlerweile haben viele Forscher solche Effekte reproduzieren können.

Oft im Park

Am wirkungsvollsten ist es jedoch offenbar, sich regelmäßig in der Natur oder zumindest in Grünanlagen aufzuhalten. Das belegte Ende letzten Jahres eine groß angelegte Studie des VU University Medical Centers in Amsterdam.

Die Forschergruppe um Jolanda Maas analysierte Daten von mehr als 345.000 Holländern auf Zusammenhänge zwischen der Nähe des Wohnorts zu Grünanlagen und der Gesundheit. Leben Menschen maximal einen Kilometer von einem Park entfernt, leiden sie demnach seltener unter Angststörungen, Depressionen und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Dabei spielt vermutlich nicht nur der psychische Erholungswert eine Rolle, sondern auch die frische Luft sowie Sport und Bewegung im Grünen. Interessanterweise war der Effekt bei sozial schwachen Familien am deutlichsten. Die Autoren mutmaßen, dass diese schon aus Finanznot kostenlose Grünanlagen häufiger nutzen.

In welcher Natur sich Menschen besonders wohl fühlen und welche Defizite der Naturmangel hervorrufen soll, lesen Sie auf Seite 2.

Forscher wie E.O.Wilson sehen hinter den Entspannungseffekten lichter Parklandschaften aber auch stammesgeschichtliche Gründe. Sie glichen den ostafrikanischen Savannenlandschaften, in denen der Mensch seinen Ursprung hat. Tatsächlich scheinen verschiedene Naturräume unterschiedlich zu wirken.

Die Umweltpsychologin Dörte Martens von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft bei Zürich etwa fand Hinweise dafür, dass sogar der Zustand eines Waldes wichtig für den Erholungseffekt eines Spazierganges ist. Die Laune ihrer 96 Versuchspersonen verbesserte sich deutlich, wenn diese durch gepflegte Wälder gingen statt durch Flächen mit viel Tot- und Unterholz.

Heimweh in der Heimat

"Obwohl beide Waldflächen durch Wege gut begehbar waren, wirkte der gepflegte Wald beruhigender", sagt Martens. Inzwischen arbeitet sie an einem Nachfolgeprojekt, das die psychische Wirkung von ökologischem Landbau mit intensiver Nutzung von Agrarflächen vergleicht.

US-Psychologen gehen in ihren Behauptungen noch einen Schritt weiter. Sie vermuten, dass der massive Naturmangel in industrialisierten Gesellschaften psychische Krankheiten hervorrufe. Für Kinder, die wenig Zeit in der freien Natur verbringen, stattdessen viel am Computer spielen oder fernsehen, postulierte der Psychologe Richard Louv 2005 sogar ein neues Krankheitsbild: die Naturdefizitstörung.

Symptome seien Übergewicht, Konzentrationsprobleme und womöglich sogar Depressionen. Doch gibt es bislang keine Belege, dass Stadtkinder psychisch labiler wären als ihre Altersgenossen auf dem Land.

In Australien will der Philosoph Glenn Albrecht zudem eine Störung ausgemacht haben, die er "Solastalgia" nennt. Diese sei eine Art Heimweh, ohne die Heimat je verlassen zu haben. Es widerfahre Menschen, wenn sich die Landschaft, in der sie aufgewachsen sind, bis zur Unkenntlichkeit verändert, etwa durch Umweltzerstörung wie Kohleabbau.

Kritiker geben allerdings zu Bedenken, dass sich ein solche Leiden, wenn es denn überhaupt existiert, keineswegs auf die Natur beschränken müsse. Ähnlich könne jemand empfinden, wenn sich etwa das Stadtbild architektonisch stark wandelt. Zudem sei es fraglich, ob es sinnvoll ist, ständig neue Begriffe für wahrscheinlich alte Krankheiten zu erfinden.

Freunde statt Bäume

So sei auch die Tatsache, dass Psychiater neuerdings von Psychosen berichten, die den Klimawandel zum Gegenstand haben, kein Beweis eines gestörten Naturverhältnisses. Psychotische Menschen bauen regelmäßig Themen in ihre Wahnvorstellungen ein, die gerade die aktuelle Diskussion dominieren.

In Europa melden Umweltpsychologen deshalb Skepsis an, wenn sie von der Einengung psychologischer Forschung auf die Naturerfahrung hören. Ellen Matthies von der Universität Bochum mahnt: "Psychische Krankheiten sind multikausal verursacht und lassen sich meist nicht auf einen einzelnen Faktor zurückführen."

Defizite in einem Lebensbereich könnten zudem häufig durch andere positive Erfahrungen kompensiert werden: Ein gutes soziales Netz könne zum Beispiel einen Mangel an Naturerleben ausgleichen - Freunde statt Bäume. Zwar glaubt auch sie, dass etwa Kindern mit der Aufmerksamkeitsstörung ADHS davon profitieren können, im Grünen zu spielen - "aber daraus folgt nicht zwangsläufig, dass mangelnde Naturerfahrung die Ursache für ihre Störung war".

Diesen Einwand will Psychologe Doherty nicht gelten lassen. "Nur weil Naturerleben als Einflussfaktor auf die menschliche Psyche experimentell schwer zu isolieren ist, sollte uns das nicht abhalten, seine Rolle weiter zu erkunden." Zudem geht es den Ökotherapeuten der USA ohnehin um mehr als nur die Natur im Kopf.

Geprägt von der Tradition der Protest- und Alternativkultur der Pazifikküste, sind sie unterwegs in globaler Mission. "Positive Naturerfahrung kann dazu führen, dass wir uns auch umweltbewusster verhalten", sagt Doherty. "Und das wiederum ist notwendig, um die ökologische Krise zu bewältigen."

© SZ vom 11.03.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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