Die Verwandlung dauert sechs Stunden. Dann, nach der Operation, blickte Karin Haider ein fremder Mensch aus dem spiegelnden Fenster des Krankenzimmers entgegen. "Nein", dachte sie, "das bin nicht ich. Das kann ich gar nicht sein." Tränen liefen ihr über das Gesicht, in dessen Mitte, zwischen Augen und Mund, ein Loch klaffte. An diesem Tag hatten Ärzte der 61-Jährigen die Nase amputiert. Es musste sein, es ging nicht anders. Ein Karzinom hatte ihre Schleimhäute befallen und sich von der Nase bis hoch in die Stirn gefressen. Ohne Operation hätte sie nicht mehr lange zu leben gehabt. Für Karin Haider bedeutete der Eingriff, sich auf eine schmerzhafte Suche nach einem neuen Ich zu begeben. Wenn das Bild im Spiegel sogar ihr fremd war und sie selbst schockierte, wie würden dann erst andere Menschen auf sie reagieren?
An einem Nachmittag zwei Jahre nach der Operation sitzt Karin Haider auf einem Behandlungsstuhl. Vor ihr steht Kornelius Egner und fertigt ihre neue Nase an. Es ist ein Körperteil aus Silikon, eine Epithese. So werden spezielle Prothesen bezeichnet, die Patienten die seelischen Schmerzen ihrer Entstellungen lindern und ihnen ihre Würde zurückgeben sollen. Die künstlichen Körperteile helfen nicht beim Laufen oder Greifen, sondern sie kaschieren die Spuren großer Wunden. Wenn das Loch in ihrem Gesicht von einer neuen Nase verdeckt ist, dann können andere Menschen endlich wieder unbefangen auf Karin Haider reagieren.
In seiner Werkstatt in Neu-Ulm modelliert der Epithetiker Kornelius Egner künstliche Augenpartien, Ohren oder Nasen. An diesem Nachmittag formt er mit den Händen ein Modell von Karin Haiders früherer Nase aus Wachs und drückt mit einer Bürste Poren in die Oberfläche. Haider sitzt aufrecht und ruhig auf dem Sessel; nur ihre Augen sind ständig in Bewegung und verfolgen jede Handbewegung des Epithetikers. "Ohne Nase fühle ich mich nackt", sagt Karin Haider. In der Mitte ihres Gesichts zieht sich ein zwei Zentimeter breiter Spalt von der Stirn fast bis zur Oberlippe. Weil die Erhebung der Nase fehlt, wirkt es, als trete ihr Kiefer weit nach vorne, wie bei einem Totenschädel.
Einmal krachte ein Autofahrer einem anderen in den Wagen, als er ihr Gesicht sah
Ihr erster künstlicher Ersatz saß recht wackelig im Gesicht, eine Silikonnase, die an ihrer Brille befestigt war. Wenn Haider, eine große, schlanke Frau, einkaufen ging, oder mit ihren Enkeln spielte, verrutschte die neue Nase manchmal und gab einen Blick auf ihre Wunde frei. Direkt nach der Operation trug die 61-Jährige für fast ein Jahr nur einen dreieckigen Verband in ihrem Gesicht, der den Spalt verdeckte. "Es hat viel Kraft gekostet, damit auf die Straße zu gehen", sagt Karin Haider. Manchmal ließen Leute vor Schreck ihr Handy fallen. Einmal fuhr ein Autofahrer dem anderen hinten drauf, als er ihr Gesicht sah.
"Ich war immer aktiv, habe als Friseurin gearbeitet, mich ehrenamtlich engagiert, aber jetzt wollte ich nicht mehr aus dem Haus gehen", sagt Haider. Zum Glück gaben ihre beiden Töchter nicht nach. Sie überredeten sie, in die Stadt zu fahren, am Wochenende frühstücken zu gehen. Das half, ihr versehrtes Gesicht zu akzeptieren: "Ich mag mich mittlerweile mit und ohne Nase, das Problem haben die anderen."
Andere Patienten zerbrechen an Entstellungen wie jener, die Karin Haider ertragen muss. Ihnen helfen Epithesen, wieder am Leben teilzunehmen. Ungefähr 2000 solcher künstlicher Köperteile werden in Deutschland pro Jahr angefertigt, 80 Prozent davon sind für Krebspatienten bestimmt. Es geht dabei um mehr als nur Ästhetik, es geht darum, in Würde leben zu können. Deswegen werden die Kosten für eine Epithese von den Krankenkassen gedeckt, selbst wenn ein Patient nicht mehr vom Krebs geheilt werden kann.
Um die neue Nase zu befestigen, musste sich Karin Haider ein zweites Mal operieren lassen. Diesmal fügten die Ärzte etwas hinzu, statt Gewebe wegzuschneiden. Mit sechs Titanschrauben befestigten die Ärzte einen Metallsteg in ihren Wangenknochen. An diesem ist senkrecht ein zweiter Metallstab befestigt. Ein kleines Kreuz verdeckt so den schwarzen Hohlraum. "Jetzt habe ich eine heilige Nase", sagt Haider und lacht. Drei kleine Magneten werden in Zukunft die neue Nase fest mit dem Metallsteg verbinden.
Zwei Tage dauert es, die Epithese anzufertigen. Im Behandlungsraum rührt Kornelius Egner Silikon an. Der Epithetiker muss den Farbton der Masse immer wieder mit der Haut seiner Patientin abgleichen. Karin Haider ist eher ein blasser Typ, trotzdem mischt der Epithetiker kräftige Farben in die Silikonmasse. Egner bereitet drei verschiedene Farbtöne vor. Auf dem Schreibtisch vor ihm steht ein Foto jener Frau, die gerade auf seinem Behandlungsstuhl sitzt. Die Aufnahme stammt aus dem Leben vor der Krebsdiagnose, Haider trägt kurze, rot gefärbte Haare, so wie heute. Die neue Nase soll ihrer eigenen möglichst ähnlich sehen: lang und schlank, mit einer leichten Krümmung nach rechts.
Für die Arbeit braucht es viel Fingerspitzengefühl, 3-D-Drucker sind deshalb dafür unbrauchbar
Direkt nach der Operation war Karin Haider ohne Hoffnung, ohne Mut. "Die Wunde hat wirklich monsterhaft ausgesehen", sagt sie. Am zweiten Tag nach dem Eingriff ließ sie sich von den Krankenschwestern eine Taschenlampe bringen und leuchtete die Stelle in ihrem Gesicht aus. Fast täglich musste sie das Loch von nun an inspizieren, damit sich keine Infektion bilden konnte. Noch immer säubert sie jeden zweiten Tag mit langen Wattestäbchen die Schleimhäute und trägt Wundheilsalbe auf. 30 Minuten dauert die Prozedur.
Im Behandlungsraum nimmt der Epithetiker nun die Gipsform zur Hand. Egner zieht mit einem feinen Pinsel die Hautfalten in einem Rotton nach, damit sie später auf der Nase zur Geltung kommen. Er streicht winzige Teppichfasern in die Form, sie sollen aussehen wie feine Äderchen. Dann schichtet er mit dem Spatel die drei Silikon-Töne an die richtigen Stellen im Gipsmodell. Hell, dunkel, hell, dunkel: diese Mischung lässt die Nase später plastisch wirken. Karin Haider sieht zu, wie sich die Gipsform langsam mit der Masse ihrer neuen Nase füllt. Dann presst Egner die drei Teile der Form fest aufeinander. Das Silikon quillt hervor, es darf kein Luftbläschen dazwischen kommen, sonst ist die Arbeit von fast 20 Stunden nicht zu gebrauchen. Es braucht viel Gefühl für diese Tätigkeit, ein Grund, weshalb 3-D-Drucker bisher für die Arbeit ungeeignet sind.
Die Oberfläche ist etwas kühler als echte Haut
Unten in der Werkstatt stellt Egner die Gipsform bei 75 Grad in den Ofen. Etwa eine Stunde muss die Nase backen. Als er wieder die Tür zum Behandlungszimmer öffnet, hält Kornelius Egner die neue Nase in der Hand. Es klickt, als er sie mit den drei Magneten auf dem kleinen Metallkreuz zwischen den Wangen befestigt. Karin Haider steht aus dem Ledersessel auf, macht drei Schritte und bleibt vor einem Spiegel stehen. Sie reißt die Augen auf, fährt sich durch die kurzen roten Haare. "Ganz anders", flüstert sie und lässt ihr Spiegelbild nicht aus den Augen.
Es wirkt so, als müsse sie sich erst wiedererkennen und selbst neu kennenlernen. Karin Haider streicht mit den Fingern über ihre Nase, ledrig fühlt sie sich an, die Oberfläche ist etwas kühler als echte Haut. Die feinen Ränder schmiegen sich an ihre Wangen. Wer nicht direkt vor ihr steht, kann den Übergang nicht erkennen. Haider bleibt noch vor dem Spiegel, dreht sich, entdeckt die winzigen Härchen, die der Epithetiker in die Nasenlöcher genäht hat.
Zum Abschied umarmen sich die beiden. Haider kann es kaum erwarten, sich ihrem Lebensgefährten und ihren Töchtern zu zeigen. Gerade die jüngere von beiden hat eine genaue Vorstellung, wie die neue Nase ihrer Mutter aussehen soll. Vor dem Schlafengehen wird Haider die Epithese jeden Abend abnehmen. Für die Nacht soll sie dann ein "hübsches Kästchen" bekommen. "Die neue Nase ist für mich wie ein Schmuckstück - und so wird sie auch behandelt", sagt Karin Haider und tritt hinaus in ihr neues Leben, das sich hoffentlich so anfühlen wird wie ihr altes.