Medikamente:Grüne Giraffen und andere Beweise

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Ärzte, Patienten und Arzneimittelexperten sind empört über die "Änderungsanträge zum Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes": Es spielt bald keine Rolle mehr, ob ein Arzneimittel etwas nutzt.

W. Bartens

Patienten droht ein Desaster. Arzneimittel sind nicht mehr sicher. Die Gesundheit von Millionen Menschen wird für Wirtschaftsinteressen geopfert. Alles Verschwörungstheorie? Mitnichten. Ärzte, Patienten und Arzneimittelexperten aus dem In- und Ausland sind empört, kommt die Rede auf die "Änderungsanträge zum Gesetzentwurf zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes", die FDP und CDU/CSU auf den Weg gebracht haben. Schon 2011 kann das neue Gesetz gültig werden.

Die Pillen soller billiger werden, das hatte Gesundheitsminister Rösler versprochen. Nun scheint die Pharma-Industrie von seinem Gesetz zu profitieren. (Foto: AP)

Die Hintergründe sind vertrackt. Ähnlich vertrackt wie der Versuch, eine Packungsbeilage zusammenzufalten. Vordergründig klingt der Plan von Gesundheitsminister Philipp Rösler ja gut. "Wir entlasten Ärzte von bürokratischen Regelungen, wir schaffen Transparenz für die Versicherten, und wir sorgen für einen fairen Wettbewerb", kündigte der FDP-Politiker im Sommer an. Aber wie kann es trotz so hehrer Absichten sein, dass sogar Selbsthilfeorganisationen behaupten, das neue Arzneimittelgesetz "gefährde die Patientensicherheit"?

Besonders kritisiert wird die Änderung, wonach der Nutzen von Medikamenten gegen seltene Leiden nicht mehr bewiesen werden muss. Ihr Zusatznutzen sei "durch die Zulassung belegt", heißt es in der Novelle. Für die Zulassung muss aber nur die Wirkung nachgewiesen werden, nicht der Nutzen. Ein großer Unterschied, wie Arznei-Skandale zeigen.

Wirkung zeigten sie ja, aber ...

Wirkung zeigten sie ja, die Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen, die 1979 auf den Markt kamen - nur nicht die erwünschte. Kranke litten zwar seltener an Herzstolpern, ihr EKG normalisierte sich. Doch unabhängige Studien zeigten, dass Zehntausende Menschen an den neuen Arzneien starben. Senkt ein Insulin den Blutzucker, wirkt es zwar - ob dadurch Spätfolgen des Diabetes verzögert werden und Menschen länger leben, belegen aber erst unabhängige Nutzenbewertungen, die seit 2004 das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) vornimmt.

Wie wichtig die Arbeit des Instituts ist, um Täuschungsversuche der Pharmafirmen zu entlarven, zeigte sich vor wenigen Tagen. Experten des IQWiG waren zu dem Schluss gekommen, dass der Wirkstoff Reboxetin nicht besser gegen Depressionen hilft als Scheinmedikamente. Allerdings litten Patienten unter Nebenwirkungen der "ineffektiven und potentiell schädlichen" Arznei.

Das Problem: Reboxetin wurde zwar schon 1997 zugelassen. Hersteller Pfizer gab aber nur einen Bruchteil der vorhandenen Daten zur unabhängigen Analyse heraus - sechs von 16 Studien. Auf öffentlichen Druck hin kooperierte der Pharmakonzern dann doch. Die bisher verschwiegenen Daten erhärteten die negative Bewertung des Antidepressivums.

"Der Entwurf zum Arzneimittelgesetz sieht eine Publikationspflicht nur für ausgewählte Studien vor. Wir brauchen aber Ergebnisse aller Studien", verlangt Beate Wieseler, Ko-Autorin der Reboxetin-Studie. "Außerdem muss geklärt werden, wie Ergebnisse älterer Studien zugänglich gemacht werden. Reboxetin wurde für die Zulassung vor 1997 getestet. Diese Studien könnten nach der Gesetzesreform weiter unter Verschluss gehalten werden", warnt Wieseler.

"Man hat den Eindruck, dass Lobbyverbände viel erreicht haben", sagt Wolf-Dieter Ludwig, Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Viele der angeblich seltenen Leiden, deren Therapie von der Nutzenbewertung ausgenommen werden soll, sind Krebserkrankungen und überhaupt nicht selten. Die Mittel sind es erst recht nicht, oft werden sie auch gegen andere Leiden eingesetzt.

Wissenschaftlich fundierte Kriterien nicht aufweichen

Fast alle neuen Krebsmittel bekommen den Status "Gegen seltene Leiden". Der Vorstoß, mit diesem Trick teure Mittel zu bevorzugen, sei wirtschaftspolitisch, aber nicht medizinisch motiviert, monieren Kritiker. "Für die Zulassung sind viele Substanzen schlecht geprüft, so dass von Nutzen oft keine Rede sein kann", sagt Ludwig. Ein neues Krebsmittel beurteilte die Europäische Arzneimittelbehörde 2009 beispielweise als "wohl klinisch nicht relevant", da Patienten keinen Vorteil hätten.

Rainer Hess warnt davor, die wissenschaftlich fundierten Kriterien aufzuweichen, mit denen der Nutzen von Arzneimitteln geprüft wird. Hess ist Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses, der Fachgutachten - etwa des IQWiG- für die Entscheidung zu Rate zieht, welche Mittel die Kassen erstatten. "Die Nutzenbewertung durch Rechtsverordnungen des Ministeriums führt weder zur Schnelligkeit noch zur Rechtsklarheit", sagt Hess.

Absurderweise will das Ministerium künftig bewerten, ob Pillen etwas nutzen - und damit das IQWiG entmachten, das dafür die Unzweckmäßigkeit eines Mittels beweisen darf. Allerdings ist es schlicht unmöglich, die Nichtexistenz nachzuweisen. Wer kann sicher sagen, dass es keine grünen Giraffen gibt?

"Nur wenn der Nutzen - und der mögliche Schaden - bekannt sind, können Patienten und Ärzte die bestmögliche Therapie auswählen", sagt Jürgen Windeler, Chef des IQWiG. "Geld, das für unnütze Medikamente ausgegeben wird, fehlt an anderer Stelle für sinnvolle Therapien."

© SZ vom 23.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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