Klimawandel:"Die Koalitionsvereinbarung wird Europas Klimaschutz maßgeblich beeinflussen"

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Deutschland gilt unter Umweltschützern nicht mehr als Klimaschutz-Vorreiter (Foto: dpa-tmn)

Ausgerechnet Europa und speziell Deutschland sind zum Bremser beim Klimaschutz geworden. Dabei war Deutschland hier mal Vorreiter. Christoph Bals von Germanwatch erklärt im Interview, warum diese Entwicklung gerade jetzt eine fatale Wirkung hat.

Von Horst Hamm

Ab dem 11. November findet in Warschau die nächste UN-Klimakonferenz statt. Es wird dort darum gehen, ein neues Klimaabkommen vorzubereiten, das 2015 in Paris besiegelt werden soll. Christoph Bals von Germanwatch hat als kritischer Beobachter an allen bisherigen UN-Klimagipfeln teilgenommen. Er fordert von den Industrie­ländern, mehr Verantwortung für die Welt und die ärmeren Staaten zu übernehmen.

natur: Herr Bals, Ende Juni hat Kanzlerin Angela Merkel im Alleingang strengere Grenzwerte für Autos in Europa verhindert. Stiehlt sich Deutschland allmählich aus seiner Verantwortung, beim Klimaschutz voranzugehen?

Bals: In der Tat haben Europa und Deutschland ihre Vorreiterrolle aufgegeben. Wirtschaftsminister Philipp Rösler hat entscheidend dazu beigetragen, dass die EU ihr CO2-Reduktionsziel bis 2020 nicht von 20 auf 30 Prozent erhöht hat. Er hat eine zentrale Rolle dabei gespielt, die notwendige Reparatur des Emissionshandels zu verhindern. Das bedeutet, dass wir in Europa bis 2020 keinerlei weiteren Klimaschutz mehr machen! Denn das 20-Prozent-Ziel haben wir jetzt schon erreicht.

Ist daran allein die deutsche Regierung Schuld? EU-Energiekommissar Oettinger warnt seit Jahren vor zu viel Klimaschutz, weil das der Industrie schade.

Beim Klimaziel waren Polen und Deutschland entscheidend. Mit ihren Stimmen hätten wir ein 30-Prozent-Ziel durchsetzen können. Und bei der Reform des Emissionshandels waren deutsche Abgeordnete das Zünglein an der Waage. Ansonsten wäre im Europaparlament problemlos im ersten Anlauf eine Mehrheit zustande gekommen. Dass es auch andere Kräfte in der EU gibt, die keinen Klimaschutz wollen und die sich jetzt genüsslich die Hände reiben, steht auf einem anderen Blatt. Aber hier hat Deutschland in einem zentralen Punkt versagt.

Können Sie sich erklären, warum Merkel die Klimaziele einfach aufgibt? Sie hat als Berater Hans Joachim Schellnhuber, den Direktor des Potsdam Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Sie weiß doch, um was es geht.

Ich hoffe, dass sie die Ziele nicht auf Dauer aufgibt. Im Moment haben wir in Europa aber eine schwere Wirtschaftskrise, und deshalb wird seit zwei Jahren der Chemie-, Stahl- und Zementindustrie und vor allem der Autoindustrie de facto ein Vetorecht beim Klimaschutz eingeräumt. Dieses Vetorecht führt in Europa zu einem Roll-Back, der den gesamten Klimaschutz untergräbt.

Also eine regelrechte Kehrtwende in der Klimapolitik?

Ja - und das sehen auch andere. So stand beim letzten Klimagipfel in Doha der Vertreter Chinas auf und sagte, von einer EU, die bis 2020 keinerlei Klimaschutz mehr betreiben will, brauche er sich doch nicht anzuhören, dass China mehr tun sollte. Die Führungsrolle der EU ist weg.

Was ist in Europa dann überhaupt noch möglich?

Wir stehen vor einer großen Richtungsentscheidung. Die EU wird dieses Jahr noch ein Weißbuch herausbringen, in dem vorgeschlagen wird, wie es weitergehen soll. Darin müsste festgeschrieben werden, dass der CO2-Ausstoß bis 2030 gegenüber 1990 um 50 bis 55 Prozent sinken, die erneuerbaren Energien auf 40 bis 45 Prozent gesteigert und gleichzeitig die Energieeffizienz um 35 Prozent gegenüber 2005 verbessert werden.

Christoph Bals: "Die Führungsrolle der EU ist weg." (Foto: Germanwatch)

Wer fordert das?

Das sind die politischen Forderungen von Germanwatch. Die EU-Kommission hat mir aber ganz klar gesagt: Wir warten mit dem Entwurf, bis wir gesehen haben, welche Ziele in der deutschen Koalitionsvereinbarung stehen.

Das heißt, von der neuen deutschen Regierung hängt viel ab?

Schon von der Koalitionsvereinbarung! Sie wird maßgeblich beeinflussen, ob Europa in den nächsten zwei Jahrzehnten auf Klimaschutz setzt. Falls nicht, wird die EU sogar bis 2030 kaum Klimaschutz machen und ihre Vorreiterrolle für eineinhalb Jahrzehnte verlieren.

Aber die EU richtet in Warschau und Paris 2015 doch zwei der drei nächsten Klimagipfel aus ...

Genau. Die ganze Welt erwartet, dass die EU, wenn sie sich schon um diese Gipfel beworben hat, auch eine Führungsrolle übernimmt und den Weg zum Erfolg weist. Wenn ihre eigenen Ziele aber überhaupt nicht ambitioniert sind, setzt sie damit auch ein internationales Klimaabkommen aufs Spiel - und das in einer Zeit, in der sich die USA und China in einer Weise in die richtige Richtung bewegen wie nie zuvor in den vergangenen 20 Jahren.

Wie stehen wir derzeit im internationalen Vergleich denn da?

Die USA, China und Europa sind die entscheidenden Akteure. Sie verursachen zusammen mehr als die Hälfte der weltweiten CO2-Emissionen. Und mindestens zwei der drei müssen sich massiv nach vorne bewegen, wenn wir international die nötige Schubkraft bekommen wollen. In den USA ist nach den zwei ganz heftigen Dürren in Texas (2011 und 2012, die Red.) und nach dem Hurrikan Sandy (2012) eine intensive Debatte über den Zusammenhang zwischen diesen sehr ungewöhnlichen Ereignissen und dem Klimawandel in Gang gekommen. Hinzu kommt, dass Politiker, die den Klimawandel leugneten, bei der letzten Wahl in den USA abgestraft wurden. Dadurch wird dort Klimaschutz in allen politischen Lagern ganz anders diskutiert als noch vor eineinhalb Jahren.

Andererseits erschließen die USA zurzeit doch jede Menge neuer Gasvorkommen mithilfe der Fracking-Technologie - das konterkariert doch jeden Klimaschutz.

Den Frackingboom halte ich für stark überschätzt. Ich glaube, dass diese Blase in wenigen Jahren kollabieren wird. Kohle und Teersand sind wesentlich entscheidender für den Klimaschutz.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hat am 1. September geschrieben, dass die globale Erderwärmung stagniert, obwohl die Menschheit so viel CO2 in die Atmosphäre pustet wie nie zuvor. Stimmt das denn?

Also erst einmal ist ein ganz wichtiger Teil dieser These falsch. Die Energiebilanzmessungen zeigen, dass durch die menschgemachten Treibhausgase mehr Energie in das Erdsystem hineinströmt als wieder herausgelassen wird. Die Energiebalance ist also gestört. Die Frage ist jetzt, welche Prozesse führen im Moment dazu, dass die Temperatur dennoch seit 1998 nicht weiter gestiegen ist.

Was sagen die Wissenschaftler dazu?

Diejenigen, die von einer Pause des Klimawandels sprechen, greifen sich das günstigste Jahr heraus, um ihre Aussage zu stützen. Denn 1998 war das deutlich wärmste Jahr des letzten Jahrhunderts, weil wir einen sehr starken El Niño-Effekt hatten. Es gab einen Riesenschub von zusätzlicher Wärme in der Atmosphäre. El Niño ist ein natürliches Klimaphänomen und bezeichnet die Umkehrung der Strömungsverhältnisse im Pazifik. Durch den starken El Niño 1998 wurde die Temperatur weltweit sprunghaft auf ein neues Niveau gehoben. Jedes Jahr in diesem Jahrtausend war deutlich wärmer als vor diesem Rekordjahr.

Aber warum steigt denn nun die Temperatur seitdem nicht weiter?

Wir hatten seit 1998 ganz schwache El Niño-, aber mehrere starke La Niña-Ereignisse. La Niña ist gewissermaßen das Gegenstück zu El Niño, bei diesem Phänomen bleibt die Oberfläche des Pazifiks recht kühl, sodass das Meer eher kühlende als erwärmende Wirkung hat. Gleichzeitig strömt vermehrt warmes Wasser in tiefere Meeresschichten, vermutlich wurde dorthin der Großteil der zusätzlichen Energie abgeleitet.

Hinzu kommt, dass wir in der letzten Zeit relativ viele Vulkanausbrüche hatten, die ebenfalls zur Abkühlung beigetragen haben, weil die Aschewolken die Sonneneinstrahlung mindern. Genauso wirken die Aerosolteilchen, die von den vielen neuen Fabriken in aufstrebenden Ländern wie China und Indien in die Luft gepustet werden. Darüber hinaus ist es gelungen, den Ausstoß der ozonzerstörenden Treibhausgase drastisch zu senken und den Anstieg von Methan zu verringern.

Und schließlich hat sich die Sonnenaktivität abgeschwächt. All das erklärt, warum der Klimawandel im Moment sozusagen eine Maske trägt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die natürlichen Zyklen sich umkehren und wir wieder auf ein neues Niveau der Wärmeentwicklung springen.

Könnte dieser Sprung auch ausbleiben?

Wenn es so käme, würden wir bei Germanwatch eine große Party feiern. Das würde nämlich bedeuten, dass die Chancen deutlich steigen, einen im großen Maß gefährlichen Klimawandel zu vermeiden - allerdings auch nur dann, wenn wir entschieden handeln. Angesichts der Faktenlage halte ich das aber praktisch für ausgeschlossen.

Die sogenannten Klimaskeptiker behaupten ja trotzdem immer noch, die Rolle des CO2 würde weit überschätzt.

Überschätzt? Alle menschlichen Hochkulturen entstanden in den letzten zehntausend Jahren. Wir rasen aber im Blindflug auf ein völlig anderes Klima zu, anders als alles, was wir seit zehntausend Jahren erlebt haben. Wer hier abwiegelt, unterschätzt dieses hoch riskante Großexperiment mit der Menschheit.

Um auf den Roll-Back in der EU zurückzukommen: Begründen die treibenden Kräfte in Deutschland und der EU ihr Nichtstun auch mit den aktuell scheinbar beruhigenden Temperaturdaten?

Der wesentliche Faktor ist die EU-Wirtschaftskrise, in der sie die Industrie keinen weiteren Belastungen aussetzen wollen. Dass manche dann nach jedem Strohhalm greifen, um ihre Verdrängungsstrategie zu rechtfertigen, ist offensichtlich - und gleichzeitig absurd: Denn jedes Jahr, das wir warten, kostet uns und die Wirtschaft am Ende weit mehr Geld.

Das PIK sagt, Hitzeextreme werden bis 2040 um ein Vielfaches zunehmen. Womit müssen wir rechnen?

Bei ungebremsten Klimawandel werden noch in diesem Jahrhundert extreme Hitzewellen, wie wir sie im Jahr 2003 gehabt haben, alle paar Jahre auftreten und nicht alle paar tausend Jahre, wie man das ohne Klimawandel erwarten dürfte. Für Hitzewellen kann man das sehr einfach ableiten, für Regenfälle ist das etwas komplexer.

Ein wichtiges Thema beim kommenden Klimagipfel wird auch sein, wie sich die Entwicklungsländer, die am stärksten die Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen, anpassen können - und vor allem, wie man das finanziert. Zögern die Industriestaaten vielleicht auch deshalb mit Geldzusagen, weil sie selbst unter den Katastrophen ächzen? Die diesjährige Flutkatastrophe in Deutschland hat uns Milliarden gekostet.

(Denkpause) Dennoch: Deutschland - oder auch andere Industriestaaten - können sich das leisten, einfach höhere Deiche zu bauen. Wir errichten sturmsicherere Häuser und schaffen neue Überflutungsareale. Dazu steht Menschen etwa in Bangladesch, die in Holz- und Blechhütten wohnen, kein Geld zur Verfügung. Zudem liegen die Slums oft gerade in den Überflutungsarealen. Deshalb gibt es bei Flutkatastrophen in armen Ländern weit mehr Todesopfer.

Es ist ermutigend zu sehen, dass viele Menschen längst begonnen haben, sich darauf einzustellen. Es gibt ja bereits gute Beispiele. In Bangladesch etwa sind in allen Küstendörfern Hügel gebaut worden, auf die sich die Menschen bei Sturmfluten zurückziehen können. Nahrung und Trinkwasser in wasserdichten Gruben helfen, zu überleben, bis das Schlimmste überstanden ist. Solche ermutigenden Entwicklungen durch Geld und Kooperationen zu fördern - auch darum wird es beim Klimagipfel in Warschau gehen.

Sie haben seit Kioto an allen großen Klimagipfeln teilgenommen. Man hat oft das Gefühl, dass dabei vor allem heiße Luft produziert wird.

Ich glaube, dass wir übertriebene Erwartungen an solche Gipfel haben. Selbst im besten Fall können sie nur einen Beitrag leisten, nicht aber die große Wende aus sich heraus herbeiführen.

Aber genau jetzt brauchen wir doch die große Wende!

Aber nicht alleine durch die UN-Gipfel. Übertriebene Erwartungen führen nur zu ständig neuen Enttäuschungen. Die Gipfel spielen jedoch in einer Gesamtstrategie eine wichtige Rolle, denn es gibt keine andere Institution in der Welt, bei der die besonders Betroffenen eine Stimme haben und die Völkerrecht schaffen kann. G-20-Gipfel hingegen können allenfalls Symbolpolitik machen.

Vorhin haben Sie gesagt, entscheidend wird sein, was China, die USA und die EU machen. Wäre es daher nicht sinnvoll, diese drei einigen sich vorab?

Es ist falsch, die Ebenen gegeneinander auszuspielen. Wir brauchen Allianzen zwischen den Vorreitern in dieser Welt. Wir brauchen Allianzen mit den besonders betroffenen Ländern, die den notwendigen moralischen Druck in die Debatte bringen. Und wir brauchen Kooperationen der EU mit den USA oder China. Die UN-Gipfel sind dann Landeplatz für alle ernsthaften Initiativen, die allerdings nur dann zu einem ambitionierten Ergebnis kommen, wenn alle ihre Hausaufgaben machen.

Im Moment sind diese Hausaufgaben - gerade in der EU - überhaupt nicht gemacht. Im Gegenteil: wir erleben diesen Roll-Back. Und in den USA und China sind die Ansätze leider auch nur zögerlich, mehr als bisher zu tun. Daher haben wir im Moment keine Dynamik, mit der die Staaten sich gegenseitig nach vorne treiben. Sogar die ehemalige Lokomotive Europa bremst.

Sehen Sie einen Ausweg aus der Lage?

Je weniger die Regierungen handeln, umso mehr brauchen wir eine Zivilgesellschaft, die den notwendigen Druck auf sie erzeugt. Und die zugleich die Lösungsmodelle umsetzt, die uns voranbringen. Bürger und Genossenschaften sind die treibenden Kräfte der Energiewende. Das schafft Inseln der Hoffnung fürs Handeln und Verhandeln.

Christoph Bals, Jahrgang 1960, ist Gründungsmitglied und seit 2005 Politischer Geschäftsführer der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. Zudem ist er im Vorstand der Stiftung Zukunftsfähigkeit sowie der Munich Climate Insurance Initiative, die Menschen in Entwicklungsländern hilft, sich gegen Klimarisiken abzusichern. Als kritischer Beobachter hat er an allen UN-Klimagipfeln teilgenommen und zahlreiche Initiativen im Bereich Klima und Entwicklung mit angestoßen - etwa das European Business Council for Sustainable Energy, atmosfair und e-mission 55. Außerdem ist Bals Mitglied im Ausschuss, der den Natur-Aktien-Index betreut.

Der Text stammt aus der November-Ausgabe von natur, dem Magazin für Natur, Umwelt und nachhaltiges Leben. Er erscheint hier in einer Kooperation - mehr aktuelle Themen aus dem Heft 11/2013 auf natur.de...

© natur 11/2013 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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