Interview:Spion mit weißem Kittel

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Adolphe Jung war nah dran an Sauerbruch - und lieferte In­for­mationen an die Rési­stance. Fragen an Sohn Frank Jung zum Widerstand seines Vaters

Von Astrid Viciano

Frank Jung, 72, veröffentlichte Jahre nach dem Tod seines Vaters Adolphe dessen Aufzeichnungen. (Foto: Privat/Frank Jung)

SZ: Was wussten Sie über die Erlebnisse Ihres Vaters in Deutschland, bevor Sie seine Notizen fanden?

Frank Jung: Mein Vater hat nie von den Kriegsjahren erzählt, und wir haben auch nicht nachgefragt. Wir wussten, dass er nicht gern darüber sprach. Das ging den meisten Menschen so, die im Krieg seelische und körperliche Wunden davongetragen hatten. Man wollte vergessen, in die Zukunft schauen. Erst als mein Vater im Jahr 1972 mit der Ehrenlegion, der Légion d'honneur, ausgezeichnet wurde, erfuhren wir von seinen außergewöhnlichen Taten.

Haben Sie dann angefangen, ihn nach seiner Zeit in Berlin zu fragen?

Noch nicht. Wir waren jung, wir hatten andere Sorgen. Eine Rolle spielte sicher auch die Angst davor, was wir wohl finden würden, wenn wir einmal anfingen zu suchen.

Was fürchteten Sie?

Uns quälte die Frage, wie mein Vater an der Charité gelandet war. Ob er mit den Nazis kollaboriert hatte. In einem Dokument über die Geschichte der Straßburger Universität lasen wir zum Beispiel, dass mein Vater als einziger Arzt aus dem Elsass fortgegangen sei, um unter den Nazis zu arbeiten. Der Satz endete mit einem Ausrufungszeichen, das hat uns sehr verletzt.

Haben Sie Antworten auf Ihre Fragen gefunden?

Zunächst wurden uns Unterlagen vorgelegt, die meinen Vater belasteten. Er hatte sich von den Nazis zu einer Fortbildung für Ärzte schicken lassen. Die Veranstaltung war wohl als Gehirnwäsche für ausländische Mediziner gedacht. Vor seiner Abreise hatte mein Vater ein Dokument unterschrieben, in dem er Adolf Hitler die Treue gelobte. Als wir das sahen, wollten wir unsere Recherchen zunächst abbrechen.

Warum haben Sie weitergemacht?

Wir wollten die historische Wahrheit finden. Nach und nach erfuhren wir, dass unser Vater genau zwei Tage vor der Kriegserklärung Frankreichs an Deutschland im Jahr 1939 in Straßburg zum Professor ernannt wurde. Nach der Annektierung der Region durch die Nazis sollte er an der geplanten Reichsuniversität als Chirurg arbeiten, wurde aber von der Gestapo als zu französisch und zu wenig vertrauenswürdig eingestuft. Er durfte nur bei seiner Familie in Straßburg bleiben, wenn er das Dokument unterschrieb und das Seminar besuchte.

Das war also die Wahrheit?

Nein, das war nur der Anfang. Wir erfuhren auch, dass er plötzlich seine Stelle kündigte, zwei Tage vor Eröffnung der Reichsuniversität. Die Freude der Nazis war nicht sehr groß, wie Sie sich vorstellen können! Sie schickten meinen Vater sofort ins "Altreich", in die Provinz, dort war er sehr unglücklich. Über seinen Mentor nahm er bald Kontakt mit dem Chirurgen Ferdinand Sauerbruch in Berlin auf. Der bot ihm eine Stelle als Privatassistent an der Charité an, dorthin wurde er dann zwangsversetzt. Seine Familie musste er im Elsass zurücklassen.

Wie kam es zu diesem Sinneswandel Ihres Vaters?

Er musste zunächst seine persönliche Haltung zum NS-Regime finden. In Berlin hat er dann fast täglich sein Leben aufs Spiel gesetzt, um es zu bekämpfen.

Wie das?

Er begegnete an der Charité Fritz Kolbe, einem Beamten des Außenministeriums. Kolbe war mit Sauerbruchs Sekretärin verlobt und ging in der Klinik ein und aus. Bald begannen beide gemeinsam im Klinikzimmer meines Vaters geheime Dokumente des Außenministeriums abzufotografieren. Die Bilder brachten Kolbe oder mein Vater nach Bern oder Straßburg, übermittelten sie an die Engländer, die französische Résistance und an den Amerikaner Allen Dulles, den späteren Direktor der CIA. Fritz Kolbe wurde Jahre später als einer der wichtigsten Spione des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Wären sie erwischt worden, wären auch meine Mutter und meine drei Geschwister im Elsass sofort erschossen oder deportiert worden. Ich war noch nicht auf der Welt.

Warum ging Ihr Vater das Risiko ein?

Er war sicher kein geborener Spion. Er hat es wohl gemacht, weil er dachte, dass es getan werden musste. Mein Vater liebte Frankreich und hegte eine tiefe Abneigung gegen das Nazi-Regime.

Wie ging es nach Kriegsende mit ihm weiter?

Nachdem die Russen Berlin eingenommen hatten, kehrte mein Vater nach Straßburg zurück. Mit einem Fahrrad und Proviant für einen Monat in der Tasche machte er sich auf den Heimweg, das muss man sich mal vorstellen! Er hatte das Rad gegen seinen letzten Anzug getauscht. Als er endlich zu Hause ankam, wurde er von manchen Kollegen als "sale collaborateur" beschimpft, als schmutziger Überläufer. Er durfte zunächst nicht wieder an der Universität arbeiten. Zwar hat ihn ein Entnazifizierungsverfahren schnell entlastet. Doch das muss ihn sehr getroffen haben. Vielleicht wollte er auch deshalb nie über die Kriegsjahre sprechen.

Susanne Michl / Thomas Beddies / Christian Bonah (Hrsg.): Zwangsversetzt - Vom Elsass an die Berliner Charité. Die Aufzeichnungen des Chirurgen Adolphe Jung, 1940-1945. Übersetzt von Christine und Radouane Belakhdar. Schwabe Verlag, Basel, 2019. 221 Seiten. 28 Euro. (Foto: N/A)
© SZ vom 01.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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