Wer jedes Risiko ausschließen wollte, müsste unvertretbar hohen finanziellen und zeitlichen Aufwand treiben. Er müsste seinen Lebensgefährten rund um die Uhr von einem Privatdetektiv beschatten lassen und dem Mechaniker in der Werkstätte oder dem Koch in der Küche beständig über die Schulter schauen. Verschärft stellt sich dieses Problem in modernen, also extrem arbeitsteiligen und komplexen Gesellschaften, die auf spezialisiertes Wissen angewiesen sind.
Ob die Lebenszeit noch reicht, um neben dem erlernten Beruf zusätzlich Meteorologie, Chemie, Physik und Informatik so zu studieren, dass man auf Augenhöhe mit den Experten über den Treibhauseffekt diskutieren kann? Vertrauen sei ein "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität", schrieb der Bielefelder Soziologe Niklas Luhmann in einer klassischen Definition.
Diese Einsicht gilt für das gesamte Leben. Wer statt auf Vertrauen allein auf eigenes Wissen und Kontrolle setzen will, müsste unerträglich hohe Transaktionskosten zahlen. Die meisten Menschen gehen deshalb das Risiko des Vertrauens ein, zumal es Sanktionsmechanismen gibt. Wer einmal Vertrauen enttäuscht hat, tut sich schwer, es wiederzugewinnen. Und: Der Reputationsverlust überträgt sich auch auf die Beziehungen zu anderen Menschen - vorausgesetzt er wird allgemein bekannt.
Wer etwa würde noch eine KFZ-Werkstätte aufsuchen, von der bekannt ist, dass ihre Kunden ständig in seltsame Unfälle mit abfallenden Rädern verwickelt sind? Oder in das Fisch-Restaurant gehen, dessen Gäste so häufig unter einer Lebensmittelvergiftung leiden? Bezeichnend ist auch, wie sehr der eher periphere Skandal um die gehackten Emails der Klimaforscher an der University of East Anglia die Glaubwürdigkeit der Klimaforschung vor allem in weiten Teilen der USA und Großbritannien beschädigt hat.
Es ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie sehr die ursprünglich rein zwischenmenschliche Kategorie des Vertrauens in den gesellschaftlich und politischen Raum diffundiert ist. Nicht ohne Grund wird auch die globale Finanzkrise und jedes angebliche Versagen der politischen Klasse als Vertrauenskrise interpretiert. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die "Obsession für das Vertrauen" eine moderne Erregung ist, wie es die Historikerin Ute Frevert in ihrer Max-Weber-Vorlesung am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz formuliert hat. Frevert erforscht am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung die Geschichte der Gefühle und kam nach dem Studium der Quellen zu einem auf den ersten Blick überraschenden Schluss: "Vertrauen wurde in und durch die Moderne erfunden."
Zwar bestreitet auch Frevert nicht, dass ein gewisses Grundvertrauen wahrscheinlich eine anthropologische Konstante ist - schließlich lebten auch Menschen in vormodernen Gesellschaften nicht nur in Stammesverbänden, in denen jeder ausreichend Informationen über den anderen hatte, so dass man auf Vertrauen verzichten konnte. Denn schon sehr früh fingen Menschen an zu handeln und zu reisen, stießen dabei auf Fremde und stellten sich mit großer Wahrscheinlichkeit die Frage: Kann ich dem trauen?
Allerdings postuliert Frevert, dass der Aufbau der modernen Institutionen, etwa eines verlässlichen Finanz- und Justizsystems, die Entwicklung von Vertrauen stark befördert hat. Wer heute einen 100-Euro-Schein entgegen nimmt, vertraut seiner Kaufkraft mit leichterem Herzen als der mittelalterliche Händler, der misstrauisch eine Goldmünze hin- und herdreht.