Die Frage ist unter anderem, ob es uns zu denken geben sollte, dass in manchen Haushalten das iPad die getigerte Hauskatze abgelöst hat. Leicht zu beantworten ist die Frage nicht: Beide liegen handlich im Schoß und lassen sich streicheln; das Elektroteil haart weniger, dafür geht das Tier nicht kaputt, wenn es auf den Boden fällt.
Insofern tun sich die Sozialtheoretiker schwer damit, wenn sie darüber befinden sollen, ob sich unsere Gesellschaft vor dem Untergang befindet. Das lässt sich - wie man seit Adorno weiß - auch aus dem Umgang mit den Dingen um uns herum ablesen, sei es der Kühlschrank oder das Smartphone.
Auf den ersten Blick fällt dem Kulturkritiker die Schmähung der digitalen Welt natürlich leicht: Schon bevor man die letzten Untermenüs des neuen Handys erkundet hat, steht die nächste Produktgeneration in den Regalen - welchen Sinn hat es da, ein Gerät in seiner ganzen Funktionsvielfalt zu durchdringen?
Vielen ergeht es so wie dem Soziologen Hartmut Rosa von der Universität Jena: "Die Zeit, die ich mir nehme, mich mit den Dingern vertraut zu machen, wird immer kürzer, und das Gefühl, das ich dabei habe, immer schaler", schreibt Rosa in Le Monde Diplomatique. "Sie sind so toll, und ich verstehe sie gar nicht. Ich mache mir keine Mühe mit ihnen. Eigentlich kann ich es kaum erwarten, bis sie eine kleine Macke haben, damit ich sie wegwerfen kann."
Denn Kaufen macht Spaß. Doch der Spaß halte nicht an. So ergehe es ihm mit vielen Dingen, so dass der Wissenschaftler sich treffend in einem Zitat von Ödön von Horvath beschrieben sieht: "Eigentlich bin ich ganz anders, nur komme ich nicht dazu." Und als guter Soziologe entwickelt Rosa aus seinem Lebenszustandsbericht einen Forschungsvorschlag: "Vielleicht sollten wir noch einmal über die Bedeutung des Begriffs ,Entfremdung' nachdenken."
Entfremdung von den Dingen und der Welt
Er teilt damit eine Diagnose, die Gesellschaftstheoretiker seit einigen Jahren wieder vermehrt stellen: Viele Menschen der Spätmoderne litten unter einem Gefühl der Entfremdung von den Dingen und der Welt. Es geht nämlich nicht nur um das Hadern mit der Digitalwelt. Dieses Problem ließe sich in vielen Fällen mit dem Vorschlaghammer lösen und mit der Rückkehr zur analogen Primitivwelt: Bei Manufactum klingen auch diese Weihnachten wieder die Kassen. Es geht um die Frage nach dem entfremdeten Leben an sich.
Das ist eine Diskussion, die noch vor zehn Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre - zu diskreditiert war der Begriff durch den Paternalismus sowohl des linken als auch des rechten Kulturpessimismus. Denn über Jahrzehnte war die Diskussion über die Entfremdung automatisch verbunden mit der Frage: Entfremdung wovon?
Darauf folgte dann die Rede von den falschen Bedürfnissen, die den Menschen aufgeschwatzt worden seien, während er - der Kulturkritiker - das gute Leben zu definieren wisse. Zu Recht wehrten sich viele, dass ihnen vorgeschrieben wird, was für sie gut sei. Dieser Essentialismus ist zu Recht mausetot.
Es war vor allem die Sozialphilosophin Rahel Jaeggi, mittlerweile an der Berliner Humboldt-Universität, die in ihrem Buch Entfremdung: Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems (Campus) dafür plädierte, wieder die Frage nach dem guten Leben zu stellen - ohne dass man den Menschen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Darin argumentiert sie unter anderem mit biografischen Skizzen des nicht gelungenen Lebens, beschreibt Menschen, die sich in ihren gesellschaftlichen Rollen fremd fühlen, von ungewollten Wünschen beherrscht sind oder an der eigenen Gleichgültigkeit gegenüber ihrer Umwelt leiden.
Da ist etwa der begabte junge Mathematiker, der einst ein wildes Leben zwischen besessener Arbeit und exzessivem Nachtleben führte. Irgendwann heiratet er, schon wegen der Steuern, ein Baby kommt, danach der Umzug in den Vorort ins Haus mit Garten. Er sieht sich plötzlich, wie er jeden Samstag mit dem Kombi ins Einkaufszentrum fährt, um die Tiefkühltruhe zu füllen, sich bemüht rechtzeitig zu Hause zu sein, um den Rasen vor der Grillparty zu mähen.
Alles ganz normal, eigentlich zwangsläufig, doch irgendwann erschüttert ihn die Erkenntnis, dass sein Leben ihm eigentümlich erstarrt und unwirklich vorkommt. "Das Problem des Mathematikers ist der Kontrollverlust", beschrieb Jaeggi in einem Interview diese Situation. "Nicht er lebt sein Leben, sondern sein Leben lebt ihn." Für die Analyse solcher Erfahrungen eigne sich der Entfremdungsbegriff.
Ähnliche Empfindungen machten Menschen heutzutage in vielen Lebensbereichen, sekundierte der Kassler Soziologe Heinz Bude auf dem Kongress zum 30-jährigen Bestehen der taz im April vergangenen Jahres in Berlin: So herrsche Entfremdung in der Arbeit, wenn man keinen Stolz mehr darauf empfinden könne, selber etwas in Gang zu setzen. Entfremdung in der Liebe sei die Unfähigkeit zur Hingabe und dem Außersichsein. Und entfremdet sei auch eine Haltung zur Politik, die unfähig ist zu öffentlicher Leidenschaft. "Entfremdung ist, wenn nichts leuchtet, wenn uns nichts ergreift und wenn uns nichts auf den Grund setzen kann", so Bude.
Auch wenn Budes Rede - wie er selber sagt - "etwas pastoral" klingt, spricht sie doch einen wichtigen Punkt der neueren Entfremdungsdebatte an: Es geht eben nicht darum, bestimmte Bedürfnisse als falsche oder wahre zu deklarieren. Oder darum, ein verborgenes Ich zu entdecken und die Verwirklichung eines wahren Selbst. "Die Bedürfnisse der Menschen sind dynamisch und veränderbar", sagt Jaeggi, die E-Mail-Kommunikation und Computer schätzt: Sie identifiziere sich mit ihrem Laptop vermutlich mehr als ihr Großvater mit seiner Reiseschreibmaschine.
Meditation, gesundes Essen, der Glaube an Gott
Ein unentfremdetes Leben zeichne sich vielmehr durch bestimmte formale Kriterien aus, vor allem dadurch, dass Menschen selbstbestimmt Projekte verfolgen, mit denen sie sich identifizieren können. "Ist etwas irgendwie anschlussfähig? Ermöglicht es Erfahrungen oder behindert es diese?"
Insofern sei es unsinnig den jeweils vorvergangenen Gesellschaftszustand als weniger entfremdet zu preisen. Vielmehr müsse sich auch die akademische Gesellschaftstheorie wieder trauen, die systematische Frage nach dem guten Leben zu stellen: Ist zum Beispiel die Arbeit so organisiert, dass die Menschen sich mit ihr identifizieren können? Verursacht der Besuch der Fußgängerzone ein kaltes Grausen oder lädt sie zum Verweilen ein?
Unwahrscheinlich, dass sich diese Frage allein mit der Lektüre der Glücks-Ratgeber lösen lassen, die sich in den Buchhandlungen stapeln. Denn diese verschieben das Problem allein auf die individuelle Ebene: Mag sein, dass Meditation, gesundes Essen, Joggen, der Besuch von Freunden und der Glaube an Gott, vielleicht sogar das Streicheln von iPads und Katzen zum Wohlbefinden beitragen. Doch darüber hinaus ist es wieder erlaubt, über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für ein gelungenes Leben reden.
Alle Texte der Serie sind zu finden unter www.sueddeutsche.de/gefuehle