Gemischte Gefühle: Beleidigt sein:Rituale der Ehre

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Wissenschaftler beleidigen Versuchspersonen und beobachten die Reaktion. Ihre Erkenntnisse können vielleicht Menschenleben retten. Denn Beleidigung und Demütigung stehen häufig am Anfang von Gewalt und Mord, von Krieg und Genozid.

Sebastian Herrmann

Manchmal begeben sich Psychologen in Situationen, in denen sie eins auf die Mütze bekommen könnten. Ein Forscherteam um Hans Ijzerman von der Universität Amsterdam zum Beispiel suchte Erkenntnis und Nervenkitzel in einem Regionalzug: Stieg an einer Haltestelle ein einzelner Mann zu, stand einer der Psychologen auf, rempelte ihn an und beleidigte ihn in der Hälfte aller Fälle.

Der Deutsche ist gerne beleidigt, regelt das aber über das Amtsgericht: Laut ADAC-Tabelle muss man für den Ausruf "Du Wichser" im Straßenverkehr mit 1000 Euro Strafe rechnen, ein "fieses Miststück" kostet 2500 Euro. (Foto: Photographer: Slo)

Beobachter aus dem Team registrierten die Reaktion des Überrumpelten und klärten diesen schließlich darüber auf, dass es sich lediglich um einen Affront im Dienste der Wissenschaft gehandelt habe. Am Ende ließen sie die überraschten Probanden noch Fragebögen ausfüllen.

So wollten die Forscher herausfinden, welche Menschen besonders empfänglich für Beleidigungen und Demütigungen sind.

So seltsam solche Experimente erscheinen mögen, so wichtig sind sie doch - vielleicht können sie sogar Menschenleben retten. Denn Beleidigung und Demütigung stehen häufig am Anfang von Gewalt und Mord, von Krieg und Genozid. Es wäre hilfreich, wenn die Entstehung und Wirkung dieser Gefühle besser verstanden wäre.

Vor ihrem Rüpel-Experiment hatten die Psychologen um Ijzerman die Hypothese aufgestellt, dass Menschen mit einem ausgeprägten Gefühl für Ehre und Status besonders heftig auf die entwürdigende Situation reagieren würden. Und so war es in der Tat - diese Menschen wurden aggressiver als andere unfreiwillige Probanden, die zwar beleidigt, aber eher ängstlich reagierten.

Die niederländischen Forscher bestätigten damit eine Studie, die ein amerikanischer Kollege bereits 1996 veröffentlicht hatte: Dov Cohen von der University of Illinois in Urbana-Champaign hatte weiße männliche Amerikaner anrempeln und als "Arschloch" bezeichnen lassen. Auf diese Demütigung reagierten Bürger aus den Südstaaten der USA weitaus heftiger als solche aus den Nordstaaten. Sie wiesen höhere Spiegel von dem Stresshormon Cortisol auf, hatten mehr Testosteron im Blut, waren aggressiver und drohten eher mit Gewalt.

Cohen folgert, dass in den Südstaaten eine "Kultur der Ehre" dominiere. In Texas und den anderen Südstaaten setze eine öffentliche Beleidigung die Reputation eines Mannes besonders stark herab. Dieser müsse dann versuchen, "seinen Ruf mit Gewalt wiederherzustellen", sagt Cohen. Der Drang zur Vergeltung ist also dann heftig, wenn eine Beleidigung besonders große Scham verursacht und der Gesichtsverlust in einer Gemeinschaft groß ist.

Psychologen stoßen immer wieder auf dieses Muster: Zwei Männer geraten vor Publikum wegen einer Statusfrage aneinander. Der eine fühlt sich vom anderen beleidigt und versucht seine Reputation durch Aggression zu verteidigen. Am Ende ist dann manchmal einer tot.

Kein Wunder, dass in vielleicht allen menschlichen Gesellschaften die Frage nach "der angemessenen Reaktion auf Beleidigungen einen solch hohen Stellenwert" genieße, schreibt Winfried Speitkamp in seinem kürzlich erschienenen Buch "Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Eine Geschichte der Ehre" (Reclam). Der Kasseler Historiker zeigt darin, wie sehr in früheren Zeiten der Umgang mit Beleidigungen und die Wiederherstellung der Reputation formal reguliert war: Adlige, Soldaten, Studenten und Bürger forderten sich zwar regelmäßig zum Duell, doch dem ging eine strenge Choreographie der Beleidigungen voraus.

Im Jahr 1809 waren unter Studenten sieben Stufen der kunstfertigen Beleidigung üblich, bevor man sich endlich zum Duell verabredete, um die Sache zu einem Ende zu bringen: "Treten auf den Fuß, Schuppen (Stoßen), Ohrfeigen, Schlagen mit dem Ziegenhainer, Spucken unter den Zopf, Angriff mit der Hetzpeitsche und das Zerschlagen des gefüllten Nachtgeschirrs auf dem Schädel des Gegners."

Die große Mehrheit dieser auch damals illegalen Zweikämpfe im Namen der Ehre endete nicht tödlich. Die Duellanten feuerten zwar mit Pistolen oder hieben mit krummen Säbeln auf ihren Gegner. Nach Schätzungen endete im späten 19. Jahrhundert jedoch nur eines von hundert Duellen mit dem Tod eines Kämpfers. Das Duell war "ein Ritual der Ehre", schreibt Speitkamp. "Hier konnte der Beleidigte, Gedemütigte Vergeltung erlangen und seine Ehre wiederherstellen, gerade ohne ein allzu hohes Risiko für sein Leben einzugehen."

Erst als das Gefühl der Ehre auf die ganze Nation übertragen wurde, entfalteten Beleidigung und Demütigung ihr tödliches Potenzial. Im späten 19. und frühen 20.Jahrhundert wurde in Deutschland häufig die "Ehre der Nation" bemüht, etwa im Vorfeld des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Beide Seiten erregten sich darüber, dass man eine "Ohrfeige" vom Gegner erhalten habe. Man war in der Ehre gekränkt und suchte Satisfaktion im Duell, das in Form eines Krieges ausgetragen wurde.

Das große Duell der Nationen endete mit dem Ersten Weltkrieg und dem von den Deutschen wiederum als Demütigung empfundenen Frieden von Versailles. Schon bald wuchsen die Rachegelüste. Der konservative Schriftsteller Oswald Spengler stimmte 1918 in seinem Werk "Der Untergang des Abendlandes" den Ton an: "Eine Beleidigung hinnehmen, eine Niederlage vergessen, vor dem Feinde winseln - das ist alles Zeichen wertlos und überflüssig gewordenen Lebens." Die Nazis nutzten dann derartige Emotionen, um die Bevölkerung für den nächsten Krieg zu begeistern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg geriet zumindest in westlichen Demokratien die Rede von kollektiver Ehre oder Demütigung in Verruf - zumindest jenseits des Sports. Ihre ganze destruktive Kraft entfalten diese Gefühle derzeit eher in anderen Regionen. So spielte die Frage der Ehre nach Ansicht mancher Beobachter eine wichtige Rolle beim Völkermord an den Tutsi in Ruanda. Und das tief empfundene Gefühl der Demütigung durch den Westen in weiten Teilen islamischer Gesellschaften verschafft den Terrornetzwerken zweifellos neue Kämpfer. Deshalb fordern Politikwissenschaftler wie der Franzose Dominique Moisi, bei der Analyse der Weltpolitik die Emotionen der Menschen zu beachten.

Insofern können die westlichen Wohlfahrtsgesellschaften froh sein, dass sie es in der Nachkriegszeit geschafft haben, das Ehrgefühl wieder weitgehend zu privatisieren. Auch der Deutsche sei zwar immer noch gerne beleidigt, schreibt der Historiker Speitkamp, regele das aber mittlerweile lieber über das Amtsgericht: Laut ADAC-Tabelle muss man für den Ausruf "Du Wichser" im Straßenverkehr mit 1000 Euro Strafe rechnen, ein "fieses Miststück" kostet 2500 Euro. Das also sollte einem eine ordentliche Beleidigung schon wert sein.

Alle Texte der Serie sind zu finden unter www.sueddeutsche.de/gefuehle

© SZ vom 03.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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