Geburten in Deutschland:Kinder, Kinder

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Über das Kinderkriegen wird seit langem heftig gestritten. Bekommen Akademikerinnen wirklich keinen Nachwuchs? Und kann Politik das beeinflussen? Sechs demographische Irrtümer.

Felix Berth

An diesem Freitag veröffentlicht das Statistische Bundesamt die Geburtenrate für das Jahr 2008. Die Zahl wird wohl knapp unter 1,4 Kindern pro Frau liegen; im Vergleich zum Vorjahr dürfte sie damit ungefähr konstant bleiben.

Weniger als zwei, nämlich nur 1,4 Kinder bekommen deutsche Frauen im Durchschnitt - und im europäischen Vergleich liegen sie damit gar nicht so schlecht. (Foto: Foto: dpa)

Die gesellschaftliche Debatte geht jedoch weiter: Was taugt das Elterngeld, das doch als demographisches Wundermittel verkauft wurde - fast so, als sei dreißig Jahre nach der Anti-Baby-Pille ein staatliches Gegenmittel erfunden worden? Kann der Staat die Zahl der Geburten überhaupt beeinflussen?

Und ist Deutschland beim Kinderkriegen wirklich auf dem letzten Platz in Europa angekommen? Weil sich diese Fragen nun erneut stellen, beschreiben wir sechs beliebte Irrtümer aus der Welt der Demographie.

1. In Ostdeutschland bekommen Frauen weniger Kinder als in Westdeutschland.

Dieser Satz war lange Zeit korrekt. Nach der Wiedervereinigung traten viele Frauen in den neuen Bundesländern tatsächlich in einen Gebärstreik, weil die Perspektiven für junge Paare so unsicher waren. Im Jahr 1994 kamen in Ostdeutschland statistisch gesehen noch 0,77 Kinder pro Frau zur Welt - damit hatte sich die Geburtenrate, die in der DDR lange Zeit deutlich über der westdeutschen gelegen hatte, innerhalb von fünf Jahren halbiert.

Doch danach ging es stetig aufwärts; 2007 war der West-Vorsprung auf einen winzigen Rest geschrumpft. Wenn sich das in der Statistik fortsetzt, wird 2008 das Jahr einer demographischen Wende: Dann haben Frauen in Ostdeutschland im Schnitt erstmals wieder mehr Kinder bekommen als Frauen in Westdeutschland. Wenn nicht, ist immerhin Gleichstand erreicht.

2. Familienpolitik kann die Geburtenrate nicht beeinflussen.

Den Einfluss, den Finanzpolitiker auf Bürger haben, werden Familienpolitiker sicher nie bekommen. Menschen kaufen vielleicht ein neues Auto, weil der Staat eine Abwrackprämie spendiert - aber sie bekommen keine Kinder, weil es sich finanziell lohnt. Es mag für Politiker mit großem Gestaltungsbedürfnis wie Ursula von der Leyen schwer erträglich sein, aber der Kinderwunsch ist weniger steuerbar, weil er komplexer ist als der Wunsch nach einem Neuwagen.

Gleichwohl spricht einiges dafür, dass die Politik eine Nebenrolle im Kinderdrama spielt. Das zeigen zum Beispiel die Elterngeld-Erfahrungen von Schweden und Dänemark. Als Schweden im Jahr 1973 das Elterngeld einführte, interessierte das niemanden. Die Ölkrise mit der steigenden Arbeitslosigkeit war viel bedeutsamer; den Schweden erschien es als großes Wagnis, Kinder zu bekommen.

Ganz anders in Dänemark in den achtziger Jahren: Die ökonomischen Perspektiven waren passabel, das Grundgefühl der Gesellschaft war kinderfreundlich - tatsächlich ließ das neue dänische Elterngeld die Geburtenrate moderat ansteigen. Das deutet auf einen mäßigen Einfluss der Politik hin: Ein bisserl was geht, wenn auch nicht immer.

3. In Deutschland sinkt die Geburtenrate seit Jahren, deshalb ist sie die niedrigste Europas.

Diesen Unsinn verbreiten auch Nachrichtenagenturen immer wieder. Dabei ist die deutsche Geburtenrate nur in den frühen siebziger Jahren wirklich deutlich gesunken; seit Mitte der Siebziger liegt sie in Westdeutschland ziemlich konstant bei durchschnittlich 1,4 Kindern pro Frau.

Andere europäische Länder beweisen seit langem, dass es noch niedriger geht - zum Beispiel Rumänien (2007: 1,30 Kinder pro Frau), Polen (1,31) und Portugal (1,33). Auch in Italien lag sie lange Zeit niedriger als in der Bundesrepublik; dort klagen die Medien interessanterweise, dass die Geburtenraten so niedrig seien wie sonst nirgends auf der Welt. Der Irrtum ist wahrscheinlich zu schön, um korrigiert zu werden.

4. Fast vierzig Prozent der Akademikerinnen bleiben kinderlos.

Mit dieser Behauptung ging die frühere Familienministerin Renate Schmidt (SPD) auf Werbetour für ihren Elterngeld-Plan. Im Wahlkampf 2005 klappte das ganz gut; erst danach kamen die Demographen darauf, dass das Bild nicht stimmte. Denn die hohe Zahl hat diverse Fehler. Am gewichtigsten ist, dass die falsche Altersgruppe betrachtet wird: Bei den 35- bis 39-jährigen Akademikerinnen mag die Kinderlosigkeit durchaus bei mehr als dreißig Prozent liegen.

Doch gerade Frauen mit hoher Bildung bekommen oft noch nach dem vierzigsten Geburtstag Kinder. Betrachtet man die Älteren und beachtet ein paar andere demographische Feinheiten, schnurren die beeindruckenden "fast vierzig Prozent" auf gut zwanzig zusammen. Im europäischen Vergleich ist das immer noch viel - aber weit entfernt von einer Schreckensnachricht.

5. Südeuropäische Länder sind kinderfreundlicher als Deutschland.

Wer in einem italienischen Restaurant beobachtet, wie spätabends Kinder herumwuseln, wird Italien für ein kinderfreundliches Land halten. Bambini gehören zum Alltag, sie werden von Müttern verhätschelt und von Vätern stolz präsentiert.

Wer schon einmal mit Kindern auf einem italienischen Spielplatz war, bekommt erste Zweifel. Die Rutsche ist durchgerostet, die Schaukel abgerissen, die Wippe könnte aus dem späten 19. Jahrhundert stammen. Würden hier tatsächlich Kinder spielen, hätten die Krankenhäuser viel zu tun.

Wer in die Statistiken von Italien, Spanien und Portugal blickt, erschrickt sogar: Frauen bekommen dort genauso wenige Kinder wie in der Bundesrepublik. Erklären kann man das am ehesten damit, dass sich die Probleme junger Paare hier wie dort ähneln: Beruf und Familie sind schwer zu vereinbaren, weil der Staat jahrzehntelang davon ausging, dass allein die Mamas für die Kinder zuständig seien. Weil sie inzwischen aber oft besser ausgebildet sind als die Männer, konzentrieren sich junge Frauen zunächst auf den Job, verschieben das Kinderkriegen auf später - und viele lassen es dann ganz.

6. Wenn viele Frauen arbeiten gehen, bekommen sie insgesamt weniger Kinder.

Diese Annahme stammt aus den sechziger Jahren, als der "männliche Alleinverdiener" das Leitbild der westlichen Welt war. Zu diesem Modell passt natürlich nicht, dass Frauen beides tun, Kinder bekommen und trotzdem mehr als ein bisschen nebenbei arbeiten.

Doch die jüngeren Erfahrungen der west- und nordeuropäischen Länder deuten eher auf das Gegenteil hin: Häufig sind die Geburtenraten dort besonders hoch, wo viele Frauen arbeiten - in Frankreich oder in den skandinavischen Ländern. Das zeigt: Je weiter sich eine Gesellschaft vom traditionellen Prinzip "Papa füllt Konto, Mama schaukelt Baby" entfernt, umso häufiger gibt es überhaupt Babys zu schaukeln.

© SZ vom 04.09.2009 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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