Teilchenphysiker konnten ihre Aufregung in den vergangenen Tagen kaum mehr unterdrücken. Ob man sie traf oder Blogbeiträge im Internet las: Mit fast kindlicher Vorfreude kreisten die Gespräche um ein "Seminar", das an diesem Mittwoch, 4. Juli, um neun Uhr morgens am Forschungszentrum Cern bei Genf abgehalten werden soll. Ihr Überschwang ließ ahnen, dass der Begriff Seminar eine maßlose Untertreibung ist. An diesem Mittwoch wollen die gut 5000 am Cern tätigen Physiker einen der größten Fahndungserfolge in der Geschichte ihrer Wissenschaft verkünden.
Das deutliche Signal eines neuartigen Partikels soll der Öffentlichkeit präsentiert werden. Dabei handelt es sich höchstwahrscheinlich um das seit mehr als 30 Jahren gesuchte "Higgs"-Teilchen, welches den bereits bekannten Grundbausteinen des Universums ihre Masse verleihen soll. Ob sie ausdrücklich von einer "Entdeckung" sprechen wollen, darüber waren die Cern-Physiker noch am Vortag ihres Seminars uneins. Zu groß ist bei manchen Forschern die Sorge, das gemessene Signal könnte sich am Ende doch noch als Artefakt erweisen. Womöglich wurde bei den Messungen mit den kirchenschiffgroßen, unterirdischen Detektoren ein teuflischer Fehler übersehen, der die Daten verzerrt.
Andererseits lässt das aus Milliarden energiereichen Protonen-Zusammenstößen mühsam herausgefilterte Signal nach Angaben teils anonym bloggender Cern-Physiker praktisch keine Zweifel mehr zu: Zwei große Experimente am unterirdischen Beschleunigerring des Cern, Atlas und CMS, haben es unabhängig voneinander gemessen. In beiden Fällen liege die Wahrscheinlichkeit für einen Zufall bei weniger als 0,0001 Prozent. Damit ist die Schwelle erreicht, von der an Experimentalphysiker üblicherweise von einer Entdeckung sprechen.
Dass ein neues Teilchen aufgetaucht ist, scheint somit sicher zu sein. Weniger sicher hingegen ist, dass es sich exakt um das 1964 vom schottischen Physiker Peter Higgs vorgeschlagene Partikel handelt, das sogenannte Standardmodell-Higgs. Dieses soll der Theorie zufolge eine Art Äther im gesamten Universum erzeugen, der allen bekannten Materie-Bausteinen wie dem Elektron und den Atomkernen ihre Massen verleiht. Das Rätsel der Teilchenmassen war lange Zeit das größte Manko in dem ansonsten recht stabilen Theoriegerüst, mit dem Physiker den Aufbau des Universums beschreiben.
Nun ist es aber durchaus möglich, dass die Natur ein noch komplexeres Gefüge aus Bausteinen und Kraftfeldern errichtet hat, als es die heutige Physik für möglich hält. Zum Beispiel könnte es eine zusätzliche Kategorie sogenannter supersymmetrischer Partikel geben, die wie eine zweite Schattenwelt das bisher bekannte Universum ergänzen. Womöglich markiert das nunmehr am Cern entdeckte Teilchen die Eingangspforte zu diesem völlig neuen Bereich des kosmischen Gefüges.
Einige Theoretiker unter den Teilchenforschern spekulieren bereits über diese Möglichkeit, denn offenbar hat das neue Partikel ein paar Macken, die nicht perfekt zur Standardtheorie passen. So lassen die bisherigen Daten vermuten, dass dieses mutmaßliche Higgs-Teilchen etwas häufiger in zwei hochenergetische Photonen zerstrahlt, als es die bisherigen Formelwerke vorhersehen.
Doch mahnen die Theoretiker zur Vorsicht: Für derlei Spekulationen ist die Datenmenge noch nicht ausreichend. Das ist einer der Gründe, warum die Cern-Physiker ihre 27 Kilometer umfassende Protonenkanone jahrelang in Betrieb halten wollen.
Ob Standard-Higgs-Partikel oder nicht - die Experimentatoren der beiden großen Detektoren des Cern feiern die sich abzeichnende Entdeckung. "Es ist pure Begeisterung" berichtet ein Mitglied der Atlas-Gruppe auf der Website der Zeitschrift Nature. Dass es die Physiker ernst meinen werden an diesem Mittwoch zeigt auch die Gästeliste: Darauf steht neben einigen Nobelpreisträgern auch der Erfinder der Higgs-Theorie, der mittlerweile 83-jährige Peter Higgs.
Als schlechte Verlierer im Wettrennen um die Entdeckung des Higgs-Teilchens erweisen sich unterdessen die Kollegen von der anderen Seite des Atlantiks. Wohl wissend um die Datenlage am Cern und das angekündigte Seminar, berichteten am Anfang dieser Woche Forscher des seit Januar 2011 abgeschalteten Tevatron-Beschleunigers bei Chicago von Hinweisen auf das Higgs-Teilchen in ihren alten Datensätzen.
Während US-Medien und Nachrichtenagenturen die wohlklingende Mitteilung der Chicagoer begierig aufgreifen, beobachten Europas Physiker mit Kopfschütteln, wie die Tevatron-Kollegen krampfhaft versuchen, ihnen die Show zu stehlen.