Jetzt geht wieder das Gebot aus, dass alle Welt den Bedürftigen helfen solle. Millionen sind auf der Flucht, haben weder genug zu essen noch eine passable Unterkunft. Doch wer folgt tatsächlich dem Aufruf, Flüchtlinge bei sich aufzunehmen und ihnen eine Bleibe anzubieten?
Man weiß ja nicht, wie riskant das ist, ob man sich nicht Elend, Gewalt und Krankheit ins Haus holt - und überhaupt: Sollen sich doch andere kümmern. Oder jeder um sich selbst. Sobald der Mensch überlegt, sobald er abwägt, ob es nicht auch mit weniger oder gar nichts getan ist, bleibt die unmittelbare Fürsorge schnell auf der Strecke. Ein bisschen spenden, vielleicht. Aber sonst?
Erklärungen, warum man nicht das tut, was aus Anteilnahme und Brüderlichkeit geboten wäre, gibt es viele: Ist man nicht selbst in Gefahr, wenn man einen Fremden zu sich holt, der durch Mord und Totschlag traumatisiert wurde? Als Einzelner kann man sowieso nichts machen. Und schließlich: Wenn man sich für alles Elend der Welt verantwortlich fühlt, kann man sich ja mit nichts anderem beschäftigen.
Alle gegen alle?
Stimmt es also doch? Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wie Thomas Hobbes 1651 im Leviathan schrieb, ständig im Krieg aller gegen alle? Genügend Beispiele gäbe es ja. Wie fand man denn unseren frühen Urahn vom Alpenhauptkamm in seinem eisigen Grab? Mit einer Pfeilspitze in der Schulter wurde Ötzi am Gletscher zurückgelassen, Wunden an Kopf und Brust, Schnitte an den Händen.
Die Geschichte der Menschheit kann als einzige Abfolge von Niedertracht und Betrug gelesen werden, als lückenlose Kette von Brutalität und Gewalt. Von den frühesten Schädelspaltern der Steinzeit bis zu den ausgefeilten Foltertechniken in den Verliesen finsterer Regime und dem millionenfachen Völkermord, für die jeder Kontinent seine Schreckensorte kennt, nichts als Grausamkeit und Blutvergießen.
Doch man muss nicht Bandenkriege und Genozide, Pfählungen und Schändungen in den Kerkern von Unrechtsstaaten bemühen, die Gemeinheit von nebenan ist Homo sapiens' alltäglicher Begleiter.
In der Figur des Finanzhais Gordon Gekko, so fiktional wie wahrhaftig, zeigen Rücksichtslosigkeit und Erniedrigung ebenso schlaglichtartig ihre hässlichste Fratze wie in der monströsen Ignoranz, mit der ein überfahrenes Kind in China am Straßenrand liegen gelassen wird.
Von Natur aus hilfbereit
Wer angesichts dieses Kaleidoskops des Schreckens das Gute im Menschen finden will, hat kein leichtes Spiel. Und muss sich wohl besser an die Instinkte halten, an das, was "von Natur aus" hervorbricht, wenn der Mensch nicht lange überlegt. Dann ist er nämlich durchaus hilfsbereit - und menschlich.
Setzt sich für andere ein und riskiert sogar sein Leben, auch wenn er keinen Nutzen davon hat und ums Leben kommen könnte. Aber er kann nicht anders, denn er folgt einem Trieb. Und der sagt ihm, dass er helfen muss, auch wenn der Preis hoch ist.