Darmkeim-Epidemie:Erfolg für die Ehec-Jäger

Fotos von Touristen, Kochrezepte und Tierärzte führten zu den Sprossen: Für die Fahndung nach der Quelle der Ehec-Epidemie haben die Experten kriminalistisches Gespür gebraucht. Nun wurden in Nordrhein-Westfalen auf Sprossen tatsächlich Keime vom gefährlichen Typ O104 nachgewiesen. Aber hätte man den Infektionsherd nicht schon viel früher finden können?

Markus C. Schulte von Drach

Vor fast einer Woche war ein Gartenbaubetrieb in Bienenbüttel in Niedersachsen ins Visier der Ermittler geraten, die nach dem Ursprung der Ehec-Epidemie in Deutschland suchten. Kamerateams belagerten den Hof im Kreis Uelzen, der auf den Vertrieb von Sprossen spezialisiert ist.

Frischer Salatteller in Hamburg

Die Warnung vor dem Verzehr roher Tomaten, Gurken und Blattsalate ist aufgehoben. Sprossen gelten weiterhin als gefährlich.

(Foto: dpa)

Doch die vielen Proben, die dort von Produkten, Boden, Wasser und dem Personal genommen wurden, hatten sich zunächst sämtlich als Ehec-frei erwiesen. Trotzdem waren sich die Experten der Behörden von Bund und Land ganz sicher: Der Hof ist eine der wesentlichen Quellen der Infektionen. Und ihre Überzeugung beruht vor allem auf der neuen, sogenannten "rezeptbasierten Restaurant-Kohortenstudie" des Robert-Koch-Instituts.

Nun wurden in Nordrhein-Westfalen auch die ersten mit dem aggressiven Ehec-Keim belasteten Sprossen gefunden, wie das Verbraucherschutzministerium in Düsseldorf meldet. Die Sprossen stammen dem Ministerium zufolge offenbar aus dem Betrieb in Bienenbüttel. Entdeckt wurden die Erreger in einer geöffneten Packung mit Sprossen in der Mülltonne eines Haushalts mit zwei Ehec-Patienten im Rhein-Sieg-Kreis. Somit konnte erstmals eine lückenlose Kette zwischen dem Erreger vom Typ O104, Sprossen aus dem Betrieb in Bienenbüttel und Ehec-Patienten hergestellt werden.

Warum aber hat es so lange gedauert, bis die Experten auf Sprossen als Überträger der Keime gekommen sind, und endlich Entwarnung für Gurken, Tomaten und Blattsalat gegeben werden konnte? Das hat mehrere Gründe.

[] Die ursprüngliche Quelle von Ehec-Bakterien ist grundsätzlich nicht leicht zu identifizieren. Das liegt schon an den komplexen Lieferwegen von den Erzeugern über Händler und Zwischenhändler. Zum anderen ist die sogenannte Infektionsquelle - etwa Rohmilch einer bestimmten Kuh - nicht mehr aktiv, wenn ein Ehec-Ausbruch als solcher erkannt ist.

[] Der Erreger des Bakterientyps, der für die gegenwärtige Epidemie verantwortlich ist, ist ein Typ, der bisher äußerst selten in Erscheinung getreten ist.

[] Das menschliche Gedächtnis ist nicht besonders verlässlich. Und die Inkubationszeit - also die Zeit von der Infektion bis zum Ausbruch der Erkrankung - und die Zeit, bis eine Ehec-Ansteckung überhaupt als solche erkannt wird, beträgt etliche Tage. Deshalb müssen sich Patienten an weit zurückliegende Mahlzeiten erinnern, wenn sie den Fachleuten bei der Suche nach der Infektionsquelle helfen wollen.

Das aber ist der klassische Weg, über den die Epidemiologen versuchen, herauszufinden, wovor sie die Bevölkerung eigentlich warnen sollen. Wenn etwa, wie in der Vergangenheit geschehen, etliche Teilnehmer einer Ferienfreizeit Rohmilch von einem Bauernhof getrunken haben, lässt sich dies über gezielte Fragen relativ schnell feststellen.

Als am 19. Mai klar war, dass Deutschland von einer Ehec-Epidemie betroffen ist, reiste deshalb ein erstes Team von RKI-Experten nach Hamburg, wo besonders viele Patienten erkrankt waren. Am 20. Mai wurde begonnen, die Ernährungs- und Lebensumstände von zwölf Patienten mit Hilfe eines mehr als 30 Seiten umfassenden Fragebogens intensiv zu ermitteln. Auch nach Sprossen wurde gefragt - doch nur drei der Betroffenen konnten sich daran erinnern, solche verzehrt zu haben. Auffällig war bei den Patienten lediglich, dass sie sich besonders bewusst ernährten.

In weiteren Studien verglichen die Fachleute das Ernährungsverhalten von Patienten und gesunden Kontrollpersonen in Hamburg. Es verdichtete sich der Verdacht, dass sich die Kranken über Gurken, Tomaten oder Blattsalat identifiziert hatten. So kam es zu der Warnung vor dem rohen Verzehr dieses Gemüses. Sprossen wurden nicht intensiver verfolgt - was im Nachhinein als Fehler betrachtet werden kann. Schließlich hatten Sprossen schon die große Ehec-Epidemie 1996 in Japan mit fast 10.000 Erkrankten ausgelöst. Zugleich machen sie nur einen kleinen Teil eines Salattellers aus - und werden deshalb gern übersehen. Aber hinterher weiß man natürlich immer alles besser.

Ein vager Verdacht

Während einige RKI-Fachleute in Hamburg, Bremen und Lübeck unterwegs waren, um die Umstände der besonders großen Ausbrüche zu untersuchen, und andere sich Häufungen von Infektionen etwa unter Restaurant- und Kantinengästen vornahmen, begannen die Behörden in mehreren Bundesländern damit, Proben in Gartenbaubetrieben zu nehmen. Mancherorts gab es Hinweise - etwa Gift auf Gurken in Mecklenburg-Vorpommern, das von Ehec-Bakterien hätte stammen können. Doch erst als Ehec-Bakterien auf Gurken vom Hamburger Großmarkt und einer Gaststätte der Hansestadt identifiziert wurde, schien es, als stünde ein Durchbruch bevor.

Drei der Gurken stammten aus Spanien, weshalb schnell der Verdacht im Raume stand, sie wären auch dort verunreinigt worden - auch wenn sie natürlich unterwegs kontaminiert worden sein könnten. Und kaum jemand hätte ahnen können, dass die Keime zwar Ehec-Bakterien waren - aber nicht jene, die für die Epidemie verantwortlich sind? Das konnten genaue Tests erst einige Tage später klären.

Wieder stellt sich die Frage: Hätte man das früher wissen müssen? War die Warnung vor Gurken, insbesondere vor spanischen Gurken, verfrüht? Schließlich mussten die Behörden abwägen, ob es besser wäre, abzuwarten und sicherzugehen. Ob die Verbraucher dafür Verständnis gehabt hätten, ist fraglich.

Während die Epidemiologen noch daran arbeiteten, die Infektionsquelle von den Patienten her einzugrenzen, besuchten Veterinäre des Landkreises Uelzen in Niedersachsen Ende Mai einen Hof, auf dem Sprossen produziert wurden. Sprossen, so ihre Überlegung, würden perfekt zur Verteilung der Krankheitsfälle passen - auch wenn die Proben auf die Keime dort negativ waren. Außerdem gingen sie - im Gegensatz zu den RKI-Leuten - davon aus, dass Sprossen von den Verbrauchern tatsächlich gegessen und dann vergessen worden sein könnten. Also begann man in den Unterlagen des Betriebs danach zu suchen, wo die Lieferungen hingegangen waren.

"Dann machte es überall auf einmal Pling", erzählt Gert Hahne vom Landwirtschaftsministerium in Hannover. "Es gab mittel- oder unmittelbare Handelsbeziehungen zu mehreren großen Ausbruchsorten in Norddeutschland." Als die Verbindung zu sechs solcher Orte klar war, gingen die niedersächsischen Behörden an die Öffentlichkeit. Und auch das Robert-Koch-Institut konzentrierte sich nun wieder auf die Sprossen - anfänglich weiterhin ohne großen Erfolg, weshalb die Warnung vor rohen Gurken, Tomaten und Salat, ergänzt um die Sprossen, bestehen blieb.

Inzwischen hat es bei dem Versuch, eine Verbindung zwischen den insgesamt 55 Erkrankungshäufungen und Einzelausbrüchen und dem niedersächsischen Betrieb herzustellen, 26 Mal "Pling" gemacht.

Die Mitarbeiter des Robert-Koch-Instituts wollten sich nach dem Erfolg der Niedersachsen auch nicht mehr auf das Erinnerungsvermögen der Patienten verlassen. Stattdessen konzentrierten sie sich auf fünf Gruppen von Reisenden oder Vereinsmitgliedern mit insgesamt 112 Personen. 19 Mitglieder dieser Gruppen waren nach einem gemeinsamen Restaurantbesuch erkrankt.

Mit Hilfe der Bestelllisten und Abrechnungsdaten wurden die Menüs identifiziert, die die Reisenden verzehrt hatten. Darüber hinaus befragten die RKI-Experten auch die Köche nach den Zutaten der einzelnen Gerichte. Und schließlich konnten sie Bilder der Reiseteilnehmer auswerten, die die Mahlzeiten fotografiert hatten. Mit Hilfe dieser "rezeptbasierten Restaurant-Kohortenstudie" stellten sie fest, dass jene, die Sprossen verzehrt hatten, ein 8,6fach höheres Risiko hatten, zu erkranken, als Menschen, die ein anderes Essen bestellt hatten. Und fast hundert Prozent aller Erkrankten hatten eindeutig Sprossen gegessen.

Damit, so ist man sich im Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sicher, ist es "heute erstmals möglich, epidemiologisch die Ursache des Ausbruchs mit großer Wahrscheinlichkeit auf den Verzehr von Sprossen einzugrenzen". Doch hätte man diese Studie nicht früher unternehmen können? Für eine seriöse Analyse sei schlicht und einfach die Zahl der erkrankten Restaurantgäste nicht groß genug gewesen, heißt es beim Bundesinstitut.

Die neuen Erkenntnisse sprechen also dafür, dass die Ehec-Epidemie sich über Sprossen ausgebreitet hat, dass BfR-Präsident Andreas Hensel den Verbrauchern nun empfiehlt, wieder Gurken, Tomaten und Salat zu essen. Und dass nun offenbar erstmals tatsächlich mit Ehec-Bakterien verunreinigte Sprossen entdeckt wurden, scheint dies zu bestätigen.

Hundertprozentige Sicherheit, dass alle verunreinigten Sprossen von dem Gartenbaubetrieb in Niedersachsen stammen, gibt es allerdings nicht. Und es bleibt weiterhin offen, ob hier der eigentliche Ursprung des Ausbruchs liegt.

Schließlich könnten die Erreger dort von einem Menschen eingeschleppt worden sein. Denn, so erklärt Ehec-Experte Helge Karch vom Universitätsklinikum Münster, "der sich jetzt ausbreitende Erreger ist bislang nur beim Menschen nachgewiesen worden". Zum jetzigen Zeitpunkt müsse man deshalb davon ausgehen, dass der Stamm ein Reservoir im Menschen hat. Das will man auch beim BfR nicht ausschließen - auch wenn eher Tiere, insbesondere Kühe, als eigentliche Wirte der Bakterien gelten.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: