Botanik:Verlier mein nicht

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Britische Wissenschaftler haben den Zustand der Pflanzenwelt untersucht. Demnach gibt es mehr Arten als angenommen - aber jede fünfte von ihnen ist bedroht.

Von Marlene Weiß

Zum Beispiel Ledermanniella lunda: Ein winziges, blühendes Pflänzchen, drei bis vier Millimeter groß. Vor einigen Jahren fanden Forscher der Royal Botanic Gardens in Kew bei London die Pflanze bei einem Wasserfall in Angola, 2015 erst wurde sie beschrieben und als eigene Art erkannt. Heute befindet sich an ihrem einzigen bekannten Standort ein Staudamm mit Wasserkraftwerk. Zudem ist der Fluss verschmutzt vom Diamantenabbau; gut möglich also, dass die kleine Pflanze schon verschwunden ist. Dieses Schicksal droht vielen Pflanzen: Etwa jede fünfte Art weltweit ist auf die eine oder andere Art in Gefahr, schätzen Kew-Botaniker in einem aktuellen Bericht, für den sie zahlreiche Studien und Datenbanken auswerteten.

Dabei weiß man noch nicht einmal, wie viele Pflanzenarten es gibt. Im Kew-Bericht kommen die Forscher auf etwa 391 000 beschriebene Gefäßpflanzen, zu denen die weitaus meisten Landpflanzenarten gehören. Darunter wiederum wären 369 000 Blütenpflanzen. Das wären weit mehr, als frühere Auswertungen ergeben haben. Aber sicher sind das noch nicht alle, jedes Jahr werden etwa 2000 Gefäßpflanzen neu beschrieben.

Auf ihre eigenen Entdeckungen sind die Kew-Forscher natürlich besonders stolz: Auf Canavalia reflexiflora etwa, eine Hülsenfrucht mit knallroten Blüten, von einem brasilianischen Forscher in einem Kew-Herbarium entdeckt und später in Brasilien gefunden. Oder Gilbertiodendron maximum, ein bis zu 105 Tonnen schwerer Baum aus Gabun. Oder die neue Orchidee Dendrobium cynthiae, die ein US-Züchter bei einem Zwischenhändler entdeckte, ihr wilder Ursprung ist unklar. Ans Tierreich, wo schon heute mehr als eine Million Arten beschrieben sind und insgesamt mindestens acht Millionen Spezies vermutet werden, kommt die Welt der Pflanzen zahlenmäßig zwar nicht annähernd heran. Aber die Probleme ähneln sich: Auch Pflanzen leiden darunter, dass ihre Lebensräume schrumpfen, sowie unter dem Klimawandel. Auf 21 Prozent schätzen die Forscher den Anteil der Gewächse, die nach den Kriterien der internationalen Artenschutz-Organisation IUCN "verletzlich", "gefährdet" oder "vom Aussterben bedroht" sind. Diese Einteilung richtet sich etwa nach der Größe des bekannten Lebensraums oder der Geschwindigkeit, in der die Population schrumpft.

17 810 Pflanzen werden in der Medizin genutzt

Besonders die Landwirtschaft kommt im Bericht schlecht weg, sie gefährdet demnach fast jede dritte unter den bedrohten Arten; vor allem, weil etwa kostbare Regenwaldflächen in Acker- und Plantagenland umgewandelt werden. Ein weiteres Drittel leidet darunter, dass Lebensräume Gebäuden, Straßen, Waldbränden oder - wie bei Ledermanniella - Staudämmen zum Opfer fallen. Und jede fünfte unter den Sorgenpflanzen wird schlicht zu schnell abgebaut, durch illegalen Holzeinschlag oder Sammeln in der Wildnis. Der Klimawandel hingegen hat demnach mit unter vier Prozent nur einen kleinen Anteil an den akuten Gefahren. Trotzdem ist klar, dass er die Pflanzenwelt langfristig massiv verändern wird: Mehr als zehn Prozent der bewachsenen Erdoberfläche ist laut den Kew-Forschern sehr empfindlich gegenüber Klimaveränderungen.

Trotzdem haben Pflanzen im Vergleich zu Tieren große Vorteile: Sie können sich anders fortpflanzen und dank Samen oder Wurzeln im Boden auch lange Durststrecken durchstehen. Tierarten sterben irgendwann aus, wenn zu wenige Individuen übrig sind; Pflanzen können sich auch noch in sehr kleinen Populationen durchschlagen. Auch darum haben die Pflanzen die fünf Phasen des Massensterbens in der Erdgeschichte wohl viel besser überstanden als Tiere. Zudem können Samen für die Zukunft in Samenbanken aufbewahrt werden, die Kew Gardens betreiben eine der größten weltweit. Von immer mehr Pflanzen wird auch das Erbgut gespeichert, etwa für künftige Forschungs- und Züchtungsansätze: In der US-Genbank sind inzwischen zumindest Teile der DNA von 106 000 Pflanzenarten gespeichert.

Bei den meisten Pflanzen weiß man noch gar nicht, wozu sie gut sind - welche Bedeutung sie für ihr Ökosystem haben oder ob sie auch dem Menschen nützen könnten. Immerhin für 31 000 Arten ist mindestens eine Nutzung dokumentiert: 17 810 in der Medizin, 5538 als Lebensmittel, 1382 als Rauschmittel oder für religiöse Zeremonien. Viele weitere harren noch ihrer Entdeckung als Nutzpflanze - oder das Wissen darüber ist nur einigen bekannt. Im Juli 2015 etwa erhielt der Colgate-Palmolive-Konzern in der EU Patente für Zahnpasta und Mundwasser auf Muskatnuss-Basis. Die indische Regierung konnte diese jedoch erfolgreich anfechten, weil sie nachweisen konnte, dass Muskatnuss seit Jahrtausenden in der dortigen traditionellen Zahnpflege eingesetzt wird.

© SZ vom 12.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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