Mitchell Joachim steht lächelnd neben einem Metallregal, in dem unter einer Plexiglashaube ein geräucherter Schinken ruht. Oder ist das doch ein mumifizierter Pferdekopf? Falsch geraten: Es ist eine Designstudie aus Trockenfleisch. Sie soll zeigen, wie man in Zukunft Häuser bauen könnte - schließlich ist der 38-jährige Joachim mit den hüftlangen Dreadlocks Architekturprofessor an der New York University. Sein Plan ist es, Natur und Architektur zu vereinen. "Da liegt es nahe, Gebäude aus lebendem Gewebe zu bauen", sagt er.
In seinem Designerbüro "Terreform1" in einem ehemaligen Bankgebäude in Brooklyn entwirft Joachim eine Welt, wie er sie sich "in 100 oder 150 Jahren" vorstellt. Er gehört zu einer neuen Architektengeneration, die sich nicht mehr nur auf kreative Intuition verlässt. Ihre Vertreter experimentieren mit lebenden Baumaterialien, mit Fleisch, Bäumen und Bakterien; sie orientieren sich an den Formen der Natur.
Joachim versteht sich als Grundlagenforscher mit einer Vision. Um diese und andere Ideen weiterzuverfolgen, hat er gemeinsam mit dem an der Harvard University lehrenden Mikrobiologen Oliver Medvedik ein kleines Biolabor eingerichtet. Dort wollen beide neue Projekte verfolgen, auch jenseits der Architektur: So experimentieren sie an einer aus Hautzellen wachsenden Armbanduhr. "Es geht einfach darum, Neues auszuprobieren", sagt er gelassen.
Weniger spektakulär erscheint da seine Idee, Häuser aus lebenden Bäumen zu bauen. "Fab Tree Hab" heißt das Projekt, bei dem er Holzgewächse um eine Sperrholzschale wachsen lassen will. Die Fenster sollen auf Sojabasis entwickelt werden, da Glas auf Grund der mitwachsenden Fensterrahmen wohl zerspringen würde.
Derzeit experimentiert Joachim auf dem Dachgarten seines Büros mit neuen Gewächsen, Drähten und Gittern. "Es gibt noch praktische Probleme wie die Stärke der Äste, die mitunter abnimmt, wenn sie fixiert werden. Das sollte aber lösbar sein", sagt er. "Wenn wir eines Tages Millionen dieser Einheiten bauen, werden sie eine gehörige Menge Treibhausgas aufnehmen."
Auch in Deutschland träumen Forscher von Häusern, die von allein in den Himmel wachsen. An der Universität Stuttgart etwa arbeitet seit 2007 eine Forschungsgruppe Baubotanik, die ebenfalls Bäume in Bauwerke verwandeln will. So haben sie letztes Jahr einen sechs Meter hohen baubotanischen Turm mit rautenförmig angeordneten Silberweidenstämmen in einem Park in der Nähe des Bodensees gepflanzt.
Größere Projekte sollen folgen: Für die Landesgartenschau 2012 im baden-württembergischen Nagold entwickelt der Architekt Ferdinand Ludwig einen zehn Meter hohen Platanenkubus mit mehreren Ebenen. Aber auch hier gibt es Probleme - etwa wenn die Bäume auf der Sonnenseite stärker sprießen.
Nicht alle Architekten wollen mit solch unberechenbarem Material arbeiten. Aber auch sie wollen von der Natur lernen, wie aus einfachen Elementen raffinierte Ordnungsmuster entstehen. Deren Prinzipien wenden sie am Computer an, um neuartige Designs zu entwickeln.
Eines der Architektenteams, das Mitte des Jahrzehnts diese Art Computerprogramme erstmals nutzte, ist "su11" in New York, gegründet von dem an der University of Pennsylvania lehrenden Ferda Kolatan und dem Schweizer Erich Schönenberger. Ihre Designs durchlaufen erst mal eine digitale Evolution nach den Mustern der Natur. Doch zugleich greifen die Architekten immer wieder in den Prozess ein, um die Struktur nach ihren ästhetischen Vorstellungen abzuändern.
Viele ihrer Designs erinnern an organische Formen: Eine Hausfassade gleicht einer Zellstruktur, Ladestationen für Elektroautos erinnern an eine Muschelkolonie und ein Dach für ein Partygelände vor einem Museum für moderne Kunst an ein buntes Walskelett.
Architekten haben immer wieder Elemente aus der Natur aufgenommen. Davon zeugen die stilisierten Blätter der korinthischen Säulen, pflanzliche Formen im Jugendstil oder die biomorphen Gebäude von Frei Otto, der in den siebziger Jahren das Dach des Münchner Olympiastadions mitgestaltete. "Das ist aber nur ein von außen an die Gebäude herangetragenes Naturverständnis", sagt Kolatan. "Mit unserer Software können wir heute die Entwürfe erstmals so entwickeln, dass sie im Kleinen wie Großen organisch gewachsen wirken."
Der Architektin Neri Oxman, Professorin am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, sind natürliche Formen allein nicht genug. Sie will direkt von den Mechanismen in der Natur lernen, um sie für Baumaterialien und Bautechniken einzusetzen. "Die Natur ist schließlich auch eine Art Architekt - warum sollten wir uns das nicht zunutze machen?"
Wissenschaftler versuchen schon seit Jahren in der sogenannten Bionik die Ingenieursleistungen der Natur auch technisch umzusetzen. Diesen Ansatz wollen nun auch vermehrt Architekten aufgreifen. Wäre es doch praktisch, man hätte multifunktionale Bauelemente, die etwa so stabil wie Pflanzenblätter sind, Wärme leiten und Wasser verdunsten lassen.
So hat Oxman ein Schalenmaterial entwickelt, das mit Hilfe einer Gitterstruktur die meisten belastenden Kräfte in einem Haus tragen könnte - ohne weitere Verstrebungen oder Stützen. In den zellförmigen Aussparungen des Gerüsts wiederum befindet sich transparentes Material, das Licht durchlässt und für Wärmeisolation sorgt.
In der klassischen Moderne war das noch ganz anders. In einem Hochhaus von Mies van der Rohe sorgt ein tragendes Stahlskelett für die Stabilität, während die Glasfassade für Licht und Isolierung zuständig ist. Oxmans neues Baumaterial gibt es bislang jedoch nur als schuhgroßen Prototypen - der Stand der Technik erlaubt es noch nicht, größere Stücke herzustellen. Aber in zehn, fünfzehn Jahren, hofft Oxman, können Bauelemente nicht nur in unterschiedlichen Formen, sondern auch aus unterschiedlichen Materialien und in variabler Festigkeit gegossen werden.
Noch existieren alle diese radikalen Designs nur im Modell. Selbst die an Flusslandschaften erinnernden, städtebaulichen Entwürfe der Stararchitektin Zaha Hadids für Singapur oder Istanbul sind bis heute nicht gebaut. Auch wenn die Architekturrebellen versichern, dass die Umsetzung nur eine Frage der Zeit sei, bleibt die Frage, ob die neue organische Inspirationen auch zu umweltfreundlicher Architektur führt.
Das sei aber der falsche Anspruch, sagt Kolatan. "Ich kann den ökologischen Fußabdruck für einen weißen Kubus ebenso optimieren wie für eine filigrane Struktur. Das Design ist davon weitgehend unabhängig." Oxman hegt hingegen die Hoffnung, dass die Nachahmung der Natur zwangsläufig auch zu mehr Naturverträglichkeit führt. Nur: "Beweisen kann ich das leider nicht."
Für Mitchell Joachim ist das hingegen keine Frage: "Wer lebende Natur als Baumaterial nutzt, muss sich um grüne Qualitäten keine großen Gedanken machen." Noch verwegener gibt sich der Schwede Magnus Larsson, der die Architektur als Fortsetzung des Naturschutzes mit anderen Mitteln sieht. Er möchte in der Sahara Bakterien ansiedeln, die Kalzit produzieren und somit Sand zu Stein erhärten. So solle ein - bewohnbarer - Wall entstehen, der die Ausbreitung der Wüste stoppt.
Im Rahmen des Projekts "Future Venice" wiederum erforschen Londoner Architekten, ob Protozellen, die in Meerwasser gelöstes Kohlendioxid in Kalkstein verwandeln, den hölzernen Unterbau der sinkenden Stadt stabilisieren könnten. Hirngespinste? Architektur-Futurist Joachim sagt lakonisch: "Große Probleme verlangen nach großen Lösungen."