Biologie:Wie Ameisen aus einem Atombunker zu Kannibalen wurden

Lesezeit: 2 Min.

Die Waldameisen im Bunker, am Tag der Befreiung. (Foto: Wojciech Stephan)

Drei Jahre lang haben Ameisen in einem stillgelegten polnischen Bunker überlebt - dank drastischer Überlebensstrategien.

Von Tina Baier

Kein Lebewesen will sterben. Antilopen fliehen vor den Löwen, Erdmännchen warnen sich gegenseitig vor Feinden, und Frösche, die schon halb im Maul von Schlangen verschwunden sind, kämpfen manchmal so erbittert ums Überleben, dass ihnen schließlich doch noch die Flucht gelingt. Auch Ameisen geben sich nicht so leicht geschlagen, berichten polnische Zoologen in der Fachzeitschrift Journal of Hymenoptera Research. Das Team um Tomasz Rutkowski von der Universität in Posen beobachtet seit drei Jahren den Überlebenskampf von Waldameisen der Art Formica polyctena.

Tote Artgenossen stapelten die Arbeiterinnen ordentlich um die Kolonie herum auf

Die Tiere stammen aus einer Kolonie in der Nähe der Stadt Międzyrzecz (Meseritz) im Westen Polens und sind durch einen Belüftungsschacht in einen stillgelegten Atomwaffenbunker gefallen. In ihrem Gefängnis ist es kalt, dunkel, und Nahrung gibt es dort eigentlich auch nicht. Die abgestürzten Tiere schlossen sich laut den Forschern auf dem sandigen Bunkerboden zu einer Art Notfallkolonie zusammen. Ein "normales Zusammenleben" war nicht möglich, da ausschließlich Arbeiterinnen in den Schacht gefallen waren. Trotzdem hielten die gefangenen Tiere Ordnung so gut es ging, trugen tote Artgenossen aus dem Nest und stapelten sie rund um die Kolonie ordentlich auf. Vermehren konnten sich die Ameisen in ihrem Gefängnis zwar nicht, doch der Nachschub kam regelmäßig von oben, weil immer wieder neue Insekten durch den Schacht fielen.

Das größte Rätsel aber war, was die Tiere eigentlich fressen. Die Zoologen dachten zunächst, sie würden sich vom Kot der Fledermäuse ernähren, die mit ihnen in dem Bunker lebten, diesen allerdings - anders als die Insekten - verlassen konnten. Alternativ machten sie Milben und ein paar andere wirbellose Tiere als mögliche Nahrungsquelle aus. Dass all diese Annahmen falsch waren, zeigte sich, als die Wissenschaftler die Kadaver der um die Kolonie gestapelten Insekten genauer untersuchten. Viele hatten ein verdächtiges Loch in ihrer Chitinhülle, außerdem entdeckten die Forscher Fraßspuren. Die Kolonie hatte offenbar überlebt, indem sich die Tiere gegenseitig kannibalisiert hatten. In ihrer Notlage haben die im Bunker gefangenen Insekten offenbar auf ein Verhalten zurückgegriffen, das bei diesen Tieren auch schon in anderen Extremsituationen beobachtet wurde. Nach Ameisenkriegen etwa, in denen die Tiere um ihr Territorium kämpfen, werden Artgenossen ebenfalls als Futter verwertet.

Wie die Forscher berichten, neigt sich das grausige Experiment jetzt dem Ende zu. Um den gefangenen Tieren zu helfen, haben die Zoologen eine Art Brücke gebaut, über die sie aus ihrem Gefängnis herauskrabbeln können. Die ersten Arbeiterinnen hätten den Weg in die Freiheit bereits gefunden, berichten die Wissenschaftler. Die Tiere wurden in ihrer Ursprungskolonie offenbar problemlos resozialisiert und führen dort ein ganz normales Ameisenleben.

© SZ vom 11.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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