Der Aufstieg der Akupunktur in Europa beginnt mit diesen Worten: "Als ich, das Chinesische fließend sprechend und lesend, 1901 in China ankam, ließ mich die Bestimmung in Gestalt von Monsignore Bermyn, dem verstorbenen Bischof der Mongolei, der mir Mongolisch beibrachte, das Hospital der Missionare besuchen, wo chinesische Ärzte die Befallenen der schrecklichen Cholera-Epidemie behandelten, die damals in Peking tobte."
Die Akupunktur nach Art von Soulié de Morants konnte sich auch deshalb durchsetzen, weil er zwar falsche, aber eingängige Erklärungen für die Methode fand.
(Foto: iStockphoto)So berichtet der Franzose George Soulié de Morant (1878 bis 1955) im Jahr 1932 in einer seiner Schriften und fährt fort: "Die Bestimmung ließ mich der fast sofortigen Heilung dank der Nadeln beiwohnen. Begeistert, aber irgendwelche Magie vermutend, erhielt ich von dem Akupunkteur eine Nadel und einige Kranke geliehen; nachdem ich sorgfältig die Stellen beobachtet hatte, wo zu nadeln war, wurden meine Patienten geheilt (...) Zwei Jahre später, Vize-Konsul und Richter am Gemischten Gerichtshof in Shanghai, traf ich als Arzt des Tribunals einen exzellenten Akupunkteur. Er war bereit, mich zu unterrichten und lies mich unter seiner Anleitung Patienten behandeln(...) Noch später, Konsul in Yunnan-fou, nannte mir ein chinesischer Arzt Bücher und gab mir Ratschläge für die Patienten unseres Hospitals. So wurde ich in den Augen des chinesischen Gesetzes Akupunkteur."
Der Autor dieser Zeilen, George Soulié de Morant, gilt als Vater der westlichen Akupunktur. Aber alle Indizien deuten darauf hin, dass er in China nie eine Nadel gestochen, vermutlich sogar nie eine Nadelung gesehen hat. Doch als nach 1945 die Akupunktur in Deutschland eingeführt wurde, beruhte diese größtenteils auf Lehren Soulié de Morants.
Kritiklos wie die gesamte westliche Welt glaubten auch deutsche Akupunkteure den Schriften eines Scharlatans, der die Lehren von der Behandlung mit der Nadel verfälscht oder gar frei erfunden hatte. Die Fantastereien des Franzosen bestimmen bis heute die Lehrinhalte, bis hin zum "Musterkursbuch Akupunktur" der Bundesärztekammer.
Soulié de Morants Akupunktur war ein Fantasieprodukt, basierend auf Büchern, die er sich nach 1929 verschaffte. Doch er kam damit durch, zumal er zwar falsche, doch eingängige Erklärungsmodelle fand - die davon zeugen, dass Soulié de Morant die chinesischen Konzepte hinter der Akupunktur nicht kannte oder missverstand.
"Dreifacher Meridian-Kreislauf" als absurdes Konstrukt
So prägte er den Begriff "Meridian" und machte aus chinesischen "Jingluo" körperlose Linien. Sein Begriff "Energie" verwandelte das "Qi", das im Chinesischen viele Bedeutungen hat, in der Medizin aber die einer Feinsubstanz, in etwas Körperloses, vergleichbar elektrischem Strom. Für Chinesen waren die Jingluo "Gefäße, in denen Blut und Qi fliest" - und keineswegs überall gleich viel.
Nur durch Soulié de Morants Umdeutung der Begriffe konnten Ärzte in Europa absurde Konstrukte schlucken wie den "dreifachen Meridian-Kreislauf". Im "Musterkursbuch" heißt er "Leitbahnumlauf", was genauso absurd ist. Nicht anders die "Dickdarm-Leitbahn". Wenn man bedenkt, dass hier "Blut und noch etwas" von der Hand zum Kopf fließen soll, wird das zum Aberglauben: Es gibt keine solche Struktur.
Auf Soulié de Morant geht auch die Überbewertung der Punktekategorien zurück, vor allem der "Tonisierungs- und Sedierungspunkte". Aber auch Kardinal-, Yuan-, Luo-, Alarm-, Meister- oder Spaltpunkte sind größtenteils nicht nur klinisch belanglos, sondern auch theoretisch dürftig begründet.
Dennoch müssen dies Kursteilnehmer für viel Geld lernen. Auch die "Organuhr" geht auf Soulié zurück. Man frage die Vorsitzenden der großen Akupunkturgesellschaften, woher Soulié diese "Energiemaxima und -minima" hatte, die im "Neijing", dem Standardwerk zur chinesischen Medizin, nicht zu finden sind. Auf die Antwort darf man gespannt sein.