100 Jahre Carl Friedrich von Weizsäcker:Von einem höheren Himmel

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Vor 100 Jahren wurde Carl Friedrich von Weizsäcker geboren, Physiker, Philosoph und der letzte Universalgelehrte. Seine Naturphilosophie ist heute weitgehend vergessen.

Bernd Graff

Wie nähert man sich Carl Friedrich von Weizsäcker, dem Universalgelehrten? Dem vielleicht letzten, den es im deutschen Sprachraum gegeben hat? Einem Mann, der naturwissenschaftliche Empirie mit Geist versöhnen wollte, einem Mann des Wissens also, einem mit Weltbildung? Vielleicht so, wie es Marion Gräfin Dönhoff zu seinem 85. Geburtstag gemacht hat: unbekümmert bewundernd. "In zwei Disziplinen ist er gleichermaßen zu Hause", hat sie dem Geehrten zugerufen, "denn er hat nach einem vollen Physikstudium ein zweites volles Studium der Philosophie absolviert, und überdies ist ihm der religiöse Bereich von fernöstlicher Lebensweisheit bis zur christlichen Lehre sehr vertraut. Da kann ein normaler Mensch natürlich nicht mithalten."

Carl Friedrich von Weizsäcker im Jahre 1997. Der weise Mann vom Starnberger See: Bis ins hohe Alter hinein wurde Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) als der letzte Universalgelehrte und als Friedensphilosoph verehrt. (Foto: dpa)

Nein, kann er nicht. Carl Friedrich von Weizsäcker, der 1991 in einem Interview den erstaunlichen Satz gesagt hat: "Ich bin bereit zuzugeben, ich war verrückt", ist kaum beizukommen. Zu umfassend sind in seinem Denken Philosophie und Naturwissenschaft, Religion, Ethik und Friedenstheorie miteinander verwoben, als dass man den Mann, der am 28. Juni 100 Jahre alt geworden wäre, als Leuchtturm in nur einer einzigen Disziplin oder Fakultät hinreichend beschreiben könnte. Carl Friedrich von Weizsäcker war eine Denkerklasse für sich, "ein Gesamtheitsdenker", wie ihn Die Zeit einmal treffend bezeichnet hat.

Angeblich, so hat er seinen Lebensweg, der am 28. April 2007 endete, einmal charakterisiert, habe er sich von Kindheit an immer größerer Abstraktion genähert: Mit sechs Jahren habe er Forschungsreisender werden wollen, dann Astronom, studiert hat er die theoretische Physik, schließlich die Philosophie. Gelandet ist er bei einer Art religiöser Forschung, die Geschichte sowohl als Natur- wie Schöpfungsgeschichte begreift, die versucht, "eine Art Schöpfungserzählung auf wissenschaftlichem Niveau vorzulegen, eine moderne Genesis, von der Entstehung der Gestirne bis zur Krise der Neuzeit". Der Dalai Lama, den Weizsäcker mehrmals traf, bezeichnete den Gedankenaustausch zwischen dem Physiker und ihm, dem Buddhisten, denn auch als sehr fruchtbar.

Was dieses Denken des Carl Friedrich von Weizsäcker fundiert, ist etwas, das man eine naturwissenschaftlich geprägte Metaphysik nennen könnte. Wie jeder Wissenschaftler strebt auch Weizsäcker nach Erkenntnis. Der Naturwissenschaftler argumentiert pragmatisch: Es gibt eine Welt und wir können davon wissen, weil wir deren Teil sind. Doch weil er eben auch Geistesmann ist, bindet er den physikalischen Befund sofort an die klassischen Säulen abendländischer Philosophie. So spricht Weizsäcker von einer Doppelnatur der Erkenntnis, die den Erkennenden nicht als einen losgelösten Beobachter denkt, der sich denkend sein Weltgewebe konstruiert, sondern selbst als Bestandteil dieser einen Welt immer schon darin eingesponnen ist. Während andere naturwissenschaftlich inspirierte Denker wie Karl Raimund Popper einen Rationalismus ansetzen, der Erkenntnisgewinn als Arbeit des Deduzierens von Naturgesetzen nach wissenschaftlichem Interesse behauptet, erarbeitet Weizsäcker die Erkenntnis als ein sich wechselseitig bedingendes, stets neues Verhältnis von Subjekt und Objekt.

Information ist so etwas wie das Energiefeld in der Mitte

Weizsäcker wählt dazu den Begriff "Information". Information meint hier allerdings nicht den alltagssprachlich gebrauchten Begriff, im Sinne von Inhalt einer Botschaft oder deren Bedeutung. Information gilt als das, was entsteht, wenn Subjekte und Objekte aufeinandertreffen. "Man beginnt sich heute daran zu gewöhnen, dass Information als eine dritte, von Materie und Bewusstsein verschiedene Sache aufgefasst werden muss", erläutert Weizsäcker. "Was man damit entdeckt hat, ist an neuem Ort eine alte Wahrheit. Es ist das platonische Eidos, die aristotelische Form, so eingekleidet, dass auch ein Mensch des 20. Jahrhunderts etwas von ihnen ahnen lernt." Er erkennt Information demnach nicht als Resultat eines theoretischen oder subjektiven Konstrukts und auch nicht als eine absolut gesetzte Information auf der Objektseite. Information ist so etwas wie das Energiefeld in der Mitte. "Information ist nicht etwas, was auf der Straße herumliegt so wie Kieselsteine", hat er einmal gesagt, "sondern Information wird erzeugt; und sie wird erzeugt nur von denjenigen, welche imstande sind, in Begriffen zu denken."

Um behutsam zum Kern dieses Denkens zu führen, sei Weizsäckers Grundannahme zitiert, die stark von dem Informationsmodell beeinflusst ist, das Warren Weaver und Claude Shannon in den 40er- und 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts konzipiert haben. Es betrachtet Information als Maß für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von physikalischen Ereignissen. So heißt es bei Weizsäcker: "Objekte, Gegenstände, gibt es nur für Subjekte, denen sie entgegenstehen." (Aufbau der Physik, 1988)

Dieser programmatische Grundsatz orientiert sich am lateinischen Ursprung des Wortes informare: etwas aktiv in Form bringen, bilden, gestalten. Demnach rückt das Subjekt zwar einerseits in die Rolle des Gestalters seiner Information. Andererseits konstatiert Weizsäcker aber auch, dass es eine reale Subjekt-Objekt-Opposition gibt und damit ein wirklich geformtes "Anderes". Das unterscheidet diese These etwa vom Konstruktivismus, jener philosophischen Richtung, der die Welt letztlich egal ist, weil mehr als das, was Menschen von ihr wissen und über sie aussagen, nicht zu erfahren ist. Für Weizsäcker jedoch ist Welt das, was mittels eines Prozesses, der insgesamt Information ist, erkannt und verarbeitet werden kann. So entsteht Erkenntnis. Es ist nicht ganz unwichtig, auf diesen Unterschied hinzuweisen. Der Naturwissenschaftler Weizsäcker sieht zwar die Involviertheit des Subjektes, aber dessen Erkenntnisse gründen auf den wahren Verhältnissen in der Welt. Das Verhältnis von gewusster Natur und wissender menschlicher Subjektivität ist also das einer gegenseitigen Bedingung.

Erkenntnis wird nicht notwendig von politischer Klugheit begleitet

Erkenntnis besteht demnach darin, dass die "objektive" Form der Welt von einem verstehenden Subjekt aufgenommen und in einem kommunikativen, sich mit der Welt austauschenden Prozess aufgenommen und gedeutet wird. Dialektisch ist dieser Prozess, weil darin einerseits tatsächlich Objekte Subjekte informieren, das heißt, sie mehren deren Wissen, sie können erkennen. Andererseits formen aber Subjekte auch ihre Objekte: Es ist ein aktiver Vorgang, so versteht es dieses Denken, im Chaos an Kontingenzen Form zu entdecken. Je unwahrscheinlicher deren Form ist, desto höher ist ihr Informationsgehalt - und umgekehrt.

Die Informationstheorie Weizsäckers will tatsächlich physikalische Verhältnisse, sie will Energie-Transformationen beschreiben und operiert daher nicht bloß in der Nomenklatur mit dem Wissensstand der theoretischen Physik und der Thermodynamik. Form ist hier weder Materie noch Bewusstsein, aber sie ist eine Eigenschaft von materiellen Körpern, die das Bewusstsein durchdringen kann. "Materie hat Form, Bewusstsein kennt Form", heißt das bei Weizsäcker.

Erkenntnis ist für ihn ein raum-zeitlich festgelegtes Produkt des Austauschs zwischen Geist und Materie. Es wird bedingt durch das thermodynamische Verhalten von Energie in der Zeit auf der einen Seite und die Informationsfähigkeit der Erkenntnis auf der anderen. Wir können die Natur erkennen, weil sie uns hervorgebracht hat. Aber letztlich erkennen wir immer auch nur die objektiven Bedingungen unseres eigenen Lebens, vor allem die Unumkehrbarkeit von Zeit.

Man wird Weizsäckers politisch-soziales, pazifistisches, ökumenisches Engagement nicht verstehen können, wenn man es nicht vor die Folie dieses Denkens gestellt sieht. Denn wenn eine solche Theorie das Fundament für ein Weltbild und eine Ethik bildet, dann erwächst daraus eine große Verantwortung für das Handeln. Wissen und Erfahrung verdanken sich der Vergangenheit. Die Zukunft kann nicht anders als in diesem Sinne unwahrscheinlich - offen und nicht determiniert - gedacht werden. Die Problemstellung also lautete für Weizsäcker: Wie soll man damit umgehen, dass Erkenntnisfortschritt nicht notwendigerweise von moralischer Reife und politischer Klugheit begleitet wird? Darin ist Weizsäckers tief empfundener Pazifismus begründet, aber auch die Skepsis gegenüber einer Politik des Kalküls und des Machbaren. 1979 lehnte er es ab, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren.

Vor dem Zweiten Weltkrieg erkannte er, der Physiker, die Möglichkeit und Gefahr einer atomaren Bombe. Der ehemalige Mitarbeiter des Atombombenprogramms der Nazis war sich bewusst, dass im Fortschritt der Erkenntnis auch verheerende Gefahren liegen können, denen man aktiv Einhalt gebieten muss. Das brachte ihn unmittelbar nach dem Krieg zur Friedenspolitik. Das Wissen um die Folgen der Atombombenabwürfe sollte darum nach dem Krieg seine Sicht auf die Politik bestimmen. So formulierte er 1957 gemeinsam mit Wissenschaftlern wie Max Born, Otto Hahn und Werner Heisenberg das Manifest der "Göttinger Erklärung", um gegen Überlegungen zu protestieren, die Bundeswehr mit Atomwaffen aufzurüsten.

Weizsäcker leitete Friedensforschungen und untersuchte die Möglichkeiten, dem Hunger weltweit ein Ende zu bereiten. 1970 gründete er das Starnberger Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, das er zehn Jahre lang zusammen mit dem Philosophen Jürgen Habermas führte. Die nächsten Jahrzehnte setzte er sich als Autor und Redner für einen radikalen Pazifismus ein.

Seine Philosophie blieb bis heute wenig schulbildend. Sie ist eng verknüpft und begründet mit Naturwissenschaft. Im Grunde genommen aber wird sie von Religion, Mystik und Platons esoterischer Metaphysik gespeist. Edward Teller, der sogenannte Vater der Wasserstoffbombe, schrieb seinem etwas jüngeren Studienfreund Carl Friedrich von Weizsäcker zu dessen 90. Geburtstag: "Wenn ich Deinen religiösen Glauben teilen könnte, würde ich mir wünschen, dass Du mich einmal im Purgatorium von einem höheren Himmel besuchen würdest."

© SZ vom 28.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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