Um im Internet Aufmerksamkeit zu erregen, helfen weder Trillerpfeifen noch Warnwesten oder Pappschilder. Das einzige, was zählt, sind Klicks. Jörg Sprave streikt deshalb, indem er in seinem Video ähnlich wie im Vorspann zu "Star Wars" gelbe Schrift durch einen Sternenhimmel ins Nirgendwo laufen lässt. "YouTube ist kaputt", steht da, wo George Lucas in seinen Filmen die Vorgeschichte zusammenfasst. Und: "Warnstreik". Dazu der Hinweis, dass das Video, in dem er die Laserpistole aus dem jüngsten "Star Wars"-Film nachgebaut hat, nun auf Facebook steht.
Sprave, 53 Jahre alt, Oberfranke und Youtube-Star, streikt, indem er die Aufmerksamkeit von Youtube weg- auf andere Plattformen lenkt. Er hofft auf diese Weise, von dem Unternehmen gehört zu werden. Seit zehn Jahren betreibt er seinen Youtube-Kanal "The Slingshot Channel", auf Deutsch etwa Zwillenkanal. In seinen Videos zeigt er seinen zwei Millionen Fans, wie er aus einer Fahrradpumpe ein Luftgewehr baut oder mit Hilfe von Gummibändern eine Schleuder, die binnen fünf Sekunden 32 Bleistifte verschießt. Aber seine Leidenschaft frustriert Sprave zunehmend.
Seit knapp zwei Jahren läuft auf der Plattform in seinen Augen vieles schief. Immer wieder ändert Youtube seine Nutzungsbedingungen und die Algorithmen, die bestimmen, welche Videos Nutzern empfohlen werden. Im März hat er deshalb die "Youtubers Union" gegründet ( youtubersunion.org), eine Art Gewerkschaft für Youtuber, die erste ihrer Art. Mittlerweile zählt sie mehr als 16 000 Mitglieder.
Die Mitglieder haben vor allem zwei Forderungen: Sie wollen, dass die Algorithmen der Plattform alle Videos gleich behandeln, und dass das Unternehmen transparent mit seinen Partnern kommuniziert, wenn sie die Community-Richtlinien der Videoplattform verändern. Sie wollen, dass Youtube sie ernst nimmt. Nebenbei geht es auch um die Frage: Wie sieht das Internet der Zukunft aus? Können Anzeigenkunden den Diskurs auf vermeintlich unabhängigen Plattformen steuern? Aber es ist auch ein Testballon. Wie sehr können Nutzer die Internetkonzerne im Silicon Valley dazu bewegen, zu reagieren?
Erster organisierter Widerstand gegen Youtube
Bei der Youtubers Union formieren sich erstmals organisierte Widerstände gegen das Unternehmen. "Eigentlich war das nur eine Frage der Zeit", sagt Christoph Neuberger, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Ludwigs-Maximilian-Universität in München. Er vergleicht den Kampf gegen den "Plattform-Kapitalismus" mit den Anfängen der Arbeitskämpfe während der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Damals erstritten Fabrikarbeiter erstmals Tarifverträge und geregelte Arbeitszeiten. Auch Sprave findet: "Youtube muss sich vorwerfen lassen, sich zu benehmen wie ein vorindustrieller Kapitalist."
Um zu verstehen, warum sich die Youtuber nun organisieren, hilft ein Blick ins Frühjahr 2017. Weil Marken-Werbung neben extremistischen Youtube-Videos auftauchte, zogen zahlreiche britische und amerikanische Konzerne ihre Anzeigen auf der Videoplattform zurück. Google änderte daraufhin seine Regeln, neben welchen Videos überhaupt Werbeanzeigen zu sehen sein dürfen. Aus Sicht vieler Youtuber der Beginn der "Adpocalypse". Das Kofferwort setzt sich aus ad, englisch kurz für Werbung, und apocalypse zusammen.
Denn die Regeln betreffen nicht nur Videos, die extremistische Inhalte oder zum Beispiel Waffen zeigen. Sondern auch solche, die streitbare Themen beleuchten. Videos über Veganismus zum Beispiel oder Politik. Welche Themen und Videos bei Werbeanzeigen außen vor bleiben, ist oft unklar. Dadurch sind die Werbeeinnahmen von Sprave von rund 6500 US-Dollar pro Monat im Frühjahr 2017 auf etwa 1500 Dollar im Frühjahr 2018 gesunken. Ein erheblicher Einschnitt für jemanden, der hauptberuflich Videos für die Plattform produziert.
Youtuber fragen: Bevorzugt die Plattform harmlose Videos?
Zusätzlich, sagt Sprave, sei die Reichweite seiner Videos gesunken. Er und seine Mitstreiter in der Youtubers Union glauben: Die Algorithmen der Plattform schlagen den Nutzern lieber harmlose Videos vor, mit denen das Unternehmen Geld verdient, als solche, neben denen keine Werbung geschaltet werden darf: Schmink-Tutorials, Kochrezepte, das Auspacken von Kinderspielzeug. Youtube streitet das vehement ab.
Auch der Kommunikationswissenschaftler und Video-Experte Bertram Gugel glaubt nicht an einen Zusammenhang zwischen Reichweite und Werbefreundlichkeit. Aber er sagt: "Youtube hat die Kontrolle über seine Algorithmen verloren." Gugel kritisiert, Youtube werde zunehmend zu einer "Werbeplattform", die Videoproduzenten seien nicht viel mehr als ein "Rohstoff". Erst kürzlich berichtete die britische Tageszeitung The Guardian, dass immer mehr Youtube-Stars vor dem Burnout stehen.
"Youtube spielt mit der Existenz und den Träumen von Menschen"
Wie groß die Verzweiflung bei einigen Youtubern ist, zeigt ein besonders krasses Beispiel. Es ist 12:46 Uhr Ortszeit am Osterdienstag, als bei der Polizei in San Bruno, Kalifornien, ein Notruf eingeht. Schüsse im Youtube-Hauptquartier. Eine 39-jährige Frau hat sich durch eine Tiefgarage auf die Terrasse geschlichen, wo Mitarbeiter des Internetkonzerns gerade zu Mittag essen. Sie schießt mit ihrer 9-Millimeter-Pistole auf drei Menschen und verletzt sie. Anschließend richtet sie sich selbst. Ihr Motiv: Sie fühlt sich diskriminiert. Das sagt die Schützin in einem Bekennervideo.
Diskriminiert, weil die Algorithmen der Plattform ihrer Auffassung nach ihre Videos absichtlich weniger Nutzern empfahlen. In diesen thematisierte die Frau ihren veganen Lebensstil. Sie versuchte, auf Youtube ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Doch weil immer weniger Nutzer ihre Videos anklickten, fürchtete sie um ihre Existenz.
Die Frau war eine extreme Einzeltäterin. Sie gehörte nicht zur Youtubers Union, Jörg Sprave verurteilt ihre Tat aufs Schärfste. "Trotzdem", sagt er, "da gibt es eine Verbindung. YouTube spielt mit der Existenz und den Träumen von Menschen." Glaubt man ihm, stehen die Änderungen von YouTube für deren immer repressiver werdende Unternehmenspolitik und damit im Zusammenhang mit dem Motiv der Schützin.
Kommunikationswissenschaftler Gugel hat ein anderes Problem festgestellt: Google habe keine Vision, wie es weitergehen soll. "Wo möchte die Plattform hin?"
Social Media:Wenn Youtuber für Klicks über Leichen gehen
Der Youtube-Star Logan Paul filmt sich, wie er in einem Wald ein Suizidopfer entdeckt. Ähnlich verheerend ist, wie die anschließende Debatte auf Youtube geführt wird.
Derzeit gäbe es einen Mix aus Fernsehserien, viralen Inhalten, Live-Gaming und Musikstreaming-Abos, deren Geschäftsmodelle untereinander im Widerspruch zueinander stünden. Er sagt aber auch: "Es gibt keine Konkurrenz für das Kernprodukt." Nirgendwo sonst im Internet können Nutzer so unkompliziert ihre selbstproduzierten Videos hochladen, und auf ein Millionenpublikum und Werbeeinnahmen hoffen.
Keine Alternative zu Youtube
Das hat auch Sprave festgestellt. Seine Streikvideos auf Facebook haben zwar einige zehntausend Zuschauer erreicht. Aber das soziale Netzwerk schüttet bislang nicht im großen Stil Werbeeinnahmen aus, wie Youtube das tut. Die meisten Mitglieder der Union wollen deshalb nicht auf alternative Plattformen ausweichen. Sie wollen, ihre Arbeitsbedingungen auf Youtube verbessern.
Aus rechtlicher Sicht ist die Youtubers Union natürlich keine Gewerkschaft im eigentlichen Sinne. "Ich finde den Namen trotzdem nicht unpassend", sagt Six Silberman. "In der englischen Sprache bedeutet Union schließlich auch Vereinigung." Der gebürtige US-Amerikaner ist bei der IG Metall für neue Arbeitsformen auf Online-Plattformen zuständig. Aus seiner Sicht sollten etablierte Gewerkschaften - wie die IG Metall - und Organisationen wie die Youtubers Union in Zukunft eng miteinander zusammenarbeiten. Um die Fragen, die neue Arbeitsformen im Internet aufwerfen, gemeinsam zu klären.
Im Fall von Uber hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) Ende 2017 entschieden, dass es sich nicht nur um eine Online-Fahrgastvermittlung, sondern auch um ein Taxiunternehmen handele. Damit können Gewerkschaften Löhne und fairere Arbeitsbedingungen für die Uber-Fahrer aushandeln. Von diesem Punkt sind Youtuber weit entfernt. Sie sind eindeutig selbständig. Klar ist aber: YouTube hat derzeit ein Monopol für Online-Videos. Damit müsste eigentlich eine besondere Verantwortung gegenüber seinen Nutzern einhergehen. Das gilt gleichermaßen für Videoproduzenten und Zuschauer.
Auf Nachfrage der Süddeutschen Zeitung reagiert das Unternehmen nur mit standardisierten Antworten: "Wir aktualisieren und passen die Durchsetzung aller unserer Richtlinien regelmäßig an", heißt es.
Sprave ist zuversichtlich, dass seine Union auf dem richtigen Weg ist. Youtube habe ihm signalisiert, dass sie auf die Wünsche und Sorgen der Protestierenden eingehen wollen. Er selbst hat sich entschieden, sein Youtuber-Dasein vorerst nicht mehr als Beruf, sondern als Hobby zu betrachten. Auch das wertet er als Erfolg: So könne niemand mehr behaupten, er würde die Interessen der Youtubers Union aus purem Eigennutz vertreten.