Kommentar:Mehr Offenheit wagen

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Alexander Hagelüken hat noch keine Prognose abgegeben. Das überlässt er lieber anderen. (Foto: Illustration: Bernd Schifferdecker)

Die Wirtschaftsweisen sollten noch undogmatischer werden, um die Deutschen im derzeitigen ökonomischen Ausnahmezustand gut zu beraten. Dazu gehört, eine Frau an die Spitze zu setzen.

Von Alexander Hagelüken

Was ist los bei den Wirtschaftsweisen? Der Sachverständigenrat erlebt derzeit viel Hickhack. Erst zerstritten sich SPD und Union darüber, ob sie Weisen-Chef Lars Feld eine dritte Amtszeit gewähren. Nun rangeln die verbliebenen Ökonom(inn)en intern, wer Feld an der Spitze nachfolgt. Das zentrale wirtschaftliche Beratergremium der Regierung muss rasch in ruhige Gewässer, denn es warten große Aufgaben.

Wohl selten war der Bedarf an ökonomischer Expertise so hoch wie gerade. Es geht darum, wie sich die Volkswirtschaft aus der Pandemie führen lässt, ohne bleibenden Schaden zu nehmen. Wie sich mit den Schuldenbergen umgehen lässt, ohne Inflation zu erzeugen und Investitionen wegzusparen. Wie sich mit Klimaschutz die Welt retten lässt, ohne durch Kahlschlag der Industrie Millionen Jobs zu vernichten. Wie Europa bei Zukunftstechnologien zu USA und China aufschließt.

Für all solche Fragen brauchen die Deutschen ein Beratergremium, dem sie unabhängige Analyse zutrauen. Und keinen Konflikthansel-Klub, den Parteipolitik dominiert. Wobei mancher Streit zur Klärung notwendig ist. Für die Konflikte der vergangenen Wochen gibt es gute Lösungen, die die Arbeit des Rats wertvoller machen, als sie es in den vergangenen Jahren war.

Das fängt mit der Ablösung des Weisen-Chefs Lars Feld an. Dem Freiburger Professor keine dritte Amtszeit zu geben, war kein Sakrileg, sondern üblicher Brauch. Die meisten Wissenschaftler sitzen wie er nur zwei Perioden im Rat, das sind reichliche zehn Jahre. Felds Ablösung ist auch nicht der Anschlag auf das ordoliberale Gewissen der Republik, zu dem sie Konservative stilisieren. Felds in die Jahre gekommene Marktradikalität ist vom internationalen ökonomischen Mainstream überholt, seit die Finanzkrise 2008 einen zu naiven Glauben an den Markt demaskierte.

Ein weiterer Marktliberaler wäre die falsche Wahl

Für Felds Nachfolge an der Spitze des Rats wäre deshalb ein weiterer Marktliberaler die falsche Wahl. Gebraucht wird ein undogmatischer Ökonom. In diesem Fall: eine Ökonomin. Veronika Grimm und Monika Schnitzer, die Forscherinnen im Rat, argumentieren beide an der Sache entlang. Bei Grimm paart sich etwa Staatsausgabendisziplin mit einem Augenmerk auf Ungleichheit und Umwelt. Und bei Schnitzer Skepsis gegenüber staatlicher Industriepolitik mit einem Nein zum Frau-am-Herd-Familienbild des Ehegattensplittings.

Damit passen weder Schnitzer noch Grimm ins politische Rechts-links-Schema - im Gegensatz zu Feld. Ihre Berufung tilgt zudem den Makel, dass dem Sachverständigenrat in 60 Jahren noch nie eine Frau vorstand. Deutschland erweckt bisher den Eindruck, als gäbe es keine einzige Ökonomin, die dieses symbolhafte Amt bekleiden könnte. Das beleidigt all die qualifizierten Forscherinnen der Republik.

Entscheidend ist, dass die Wirtschaftsweisen nun ihren Kurs der Offenheit ausweiten, den die jüngsten Personalien einleiteten. Das bedeutet: an der Sache entlangargumentieren, um die besten Antworten auf die Fragen der Zeit zu liefern - von Schuldenbergen über Klimaschutz bis zur Zukunft Europas. Gelingt das dem Sachverständigenrat, leistet er mehr als in den vergangenen Jahren.

Denn zuletzt verharrte die Mehrzahl der Weisen wie Lars Feld zu oft im marktliberalen Dogma. So verdammten sie etwa den Mindestlohn, wobei mancher warnte, dieser koste mehr als eine Million Jobs. Diese Prognose entpuppte sich nach der Einführung 2015 als krasser Quatsch. Mit dem inzwischen verstorbenen Gebhard Kirchgässner kritisierte einer der großen deutschsprachigen Ökonomen schon vor Jahren, die Weisen verdammten Dinge wie den Mindestlohn, ohne dafür empirische Belege zu haben. Kirchgässner darf als unvoreingenommen gelten, er war Lars Felds Doktorvater.

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